Die Freiheit des Widerspruchs

4 01 2011

Es sah aus wie ein dicker, etwas zu kurz geratener Kugelschreiber. Am oberen Ende befand sich die Austrittsöffnung, am unteren eine kleine, silberne Fläche, direkt unter dem Daumen, und das war der Schalter. „Ehe ich Ihnen jetzt die Grausemmel-Strahlenfeld-Theorie erkläre oder die McBannister-Siepelkotten-Ursprungsgleichung, das Ding ist jedenfalls vollkommen ungefährlich.“ „Na, ob die Wahrheit wirklich so ungefährlich ist?“ Professor Peutlinger schmunzelte. „Es kommt ja auch immer darauf an, wann man sie ausspricht. Und in diesem Fall geht es auch nicht so sehr um die Wahrheit, sondern darum, dass sie sich nicht in Widersprüche verwickeln lässt.“

Das Licht auf der Oberseite erglomm grün. „Dann drücken Sie auf den Schalter.“ Es knackte leise. Ich stellte keinen Unterschied fest. „Natürlich wirkt es auch nur, wenn Sie jemanden direkt bei einem Widerspruch ertappen – die Gleichrichtung im Strahlenfeld wird dann gestört, und der Fluss der Teilchen ist… also auf jeden Fall lädt es eine halbe Sekunde. Und dann drücken Sie wieder.“

Minnichkeit wünschte mir viel Glück und Gesundheit. Reste der Weihnachtsdekoration lagen am Empfang herum, so schnell hatte Trends & Friends noch nicht Engelchen, Rauschgold und silberglitzernde Kugeln entfernt. „Kleinen Augenblick noch, Frau Schwidarski wird sicherlich gleich für Sie da sein.“ Ich informierte ihn kurz, dass sie mich um den Termin gebeten hatte (und nicht umgekehrt), da kam sie schon herangesegelt. „So fürchterlich viel zu tun momentan“, plapperte sie. „Man kommt ja wieder zu gar nichts. Seitdem wir den Etat von Knuppermann und Söhne haben, sind wir völlig – Rechnung? hatte ich nicht gesehen, tut mir Leid. Mahnung, na das macht ja das Mahnwesen. Weiß ich gar nichts von. Ach so, Sie hatten mir eine geschickt.“ Ich fühlte nach dem kleinen Gerät in meiner Rocktasche. Das Lämpchen signalisierte Bereitschaft. „Das hatte ich bestimmt nicht abgezeichnet, ganz bestimmt nicht.“ Ein leichter Druck auf den Schalter, ein unmerklich sachtes Knacken. „Ich weiß, wir sind jetzt schon elf Wochen im Zahlungsrückstand, aber wenn Sie mir versprechen, dass Sie wieder Aufträge von uns annehmen, dann werden wir dem Inkassobüro auch einen Abschlag anweisen.“

Ich war verwirrt. Umso einfacher machte es sich Jonas. „Ich nehme an, es ist Chantal“, fragte ich mitfühlend. „Jacqueline“, korrigierte er, „sie ist, wie soll ich sagen, so furchtbar jung. Das hat ja auch seinen Reiz, aber wenn man sich dann mal mit Arbeitskollegen trifft und sie vorstellt, dann merkt man, dass sie nicht in meiner Welt lebt.“ Das Ding zwischen meinen Fingern knackte. „Sie ist, wie soll ich sagen, so furchtbar jung, und das hat ja auch seinen Reiz.“ Ich begriff.

„Nehmen Sie noch eine Tasse Tee“, bat mich Doktor Klengel. „Erstens wollte ich schon immer mal diesen Vorstandsvorsitzenden da reden hören, und zweitens ist er umsonst.“ „Das denke ich auch“, antwortete ich geistesabwesend. „Der Tee natürlich – ah, darf ich vorstellen? Herr Direktor Helm.“ Ich deutete eine Verbeugung an. „Der Helm?“ „Genau“, bestätigte der Alte, „Stahl-Helm. Sie kennen mich?“ Er lächelte geschmeichelt, als ich nickte. „Sie kommen meist zur rechten Zeit. Aber sagen Sie, was macht denn die deutsche Wirtschaft?“ „Natürlich befinden wir uns trotz einiger Verwerfungen, trotz einiger sehr schwieriger Bedingungen für die Renditensicherheit in sehr guter Verfassung, ja man könnte unter Umständen sogar von einem Aufschwung sprechen, der – unter uns, mein lieber Freund – noch sehr viel größer ausfiel, als wir uns das gedacht hatten.“ Knack. „Und dann müssen Sie mit einrechnen, dass die großen Entbehrungen der vergangenen zwei Jahre vor allem den Export getroffen haben. Um das Niveau unserer Aktien zu halten, mussten wir ja einige Leute an die frische Luft setzen. Deshalb ist Lohnzurückhaltung jetzt das Gebot der Stunde, es kann nicht so weitergehen wie bisher.“ Knack. „Denn wir sind ja Exportweltmeister, auch deshalb, weil wir die Spekulanten von außen gegen den Euro schießen lassen, und das Ergebnis kann sich durchaus sehen lassen.“ Knack. „Und da wir durch diesen ganzen Sozialirrsinn ständig Gefahr laufen, dass dieser Staat, der sich gefälligst aus unserem Markt herauszuhalten hat, sich möglicherweise aus unserem Markt heraushält, wenn der Markt uns mal verschlingt…“ Knack.

„Ich halte ihn für, hm: talentiert.“ „Und Sie sind der Ansicht, er habe die nötige Kompetenz für sein Amt?“ Strauff zu Eybelfeldt zog mokant eine Braue in die Höhe. „Das sagen Sie.“ Ich sah unauffällig nach der Leuchte; kein Fehler, sie gab immer noch grünes Licht. „Wir sind an einem guten Einvernehmen mit den Gesandtschaften interessiert, Deutschland ist sich seiner Aufgabe sehr bewusst – die Entwicklungs- und Schwellenländer brauchen eine Stimme.“ Mehr war aus dem Diplomaten nicht herauszuholen.

Hildegard war nur wenige Minuten vor mir nach Hause gekommen. „Es war so schrecklich voll, ich konnte gar nicht mehr in den Supermarkt, weil es nirgends Parkplätze gab. Schau mal, die sind neu.“ Sie zeigte mir ein Paar schwarze Knopfstiefeletten. Unwillkürlich ließ ich den Auslöser knacken. „Sie werden zum Geblümten passen, wenn wir am Samstag in die Oper gehen.“ Ich seufzte. Sie schaute mich verärgert an. „Und jetzt tu doch mal dieses Spielzeug weg. Dass Männer aber auch immer so Schnickschnack brauchen und damit wichtig tun. Ihr seid eben vollkommen widersprüchlich!“