„DIN A0 bitte auf den Tisch“, brüllte Lotterer. Die Maschine stampfte. Der Saal zitterte, als rüttelte ein Riese am Fundament. Dann kam ein Arbeiter mit dem Bogen gerannt und breitete das große Stück Papier aus unter der hell erleuchteten Decke: ein blaugraues Plakat. Datum und Anlass ließen keinen Zweifel, der Slogan Wähl auch Du gab die Botschaft klar an, die der Aushang in die Hirne hämmern sollte. Aber wo war der Kandidat, wo war die Partei? Wer versprach denn da Bockwurst und Weltfrieden, und vor allem: wozu? Lotterer legte die Stirn in Falten. „Was stellen Sie sich denn vor? Glaubwürdige Aussagen?“
An der Wand hingen aufgereiht Druckvorlagen. Mehr Bildung vom Brutto und Wir sind Sicherheit versprach’s da, und: Ihre Leistung muss sich für uns wieder lohnen. Retuschierte Poltikerschraubköpfe blickten aus der Fläche, als hätte man sie mit Butterbrot hypnotisiert, feist und selbtsatt, dumm und schläfrig vor verschwimmend unfarbigen Hintergründen. „Gefällt Ihnen denn dieser Krempel besser?“ Lotterer stemmte die Hände in die Hüften. „Das haben Sie zu jeder Wahl an jeder Straßenecke, einmal hinsehen und einmal weg, und schon haben Sie es vergessen.“ „Und das wollen Sie ändern mit Ihren Plakaten“, gab ich zurück, „die gar nicht erst eine Aussage transportieren?“ „Natürlich haben diese Anschläge eine Aussage, eine sehr klare sogar. Sie hat mit der politischen Wirklichkeit auch viel mehr zu tun als diese hochglanzpolierten Gesichter. Aber das merken Sie auch nicht.“ „Nein“, lächelte ich. „Das merke ich nicht. Das müssen Sie mir schon erklären.“
Umständlich putzte Lotterer seine Brille, das heißt: er verschmierte den Staub mit dem Zipfel seines Arbeitskittels auf den Gläsern. „Wen wählen Sie denn, wenn Sie wählen?“ „Das weiß ich, sobald ich lese, wer auf dem Plakat steht.“ Lotterer grinste. „Sehen Sie? Die Parteien setzen Ihnen eine Liste austauschbarer Kandidaten vor, die am wenigsten Widerstand leisten und nicht viel verändern wollen an den Parteilinie – oder an den bestehenden Verhältnissen. Wer da aufmuckt, wird sowieso nicht aufgestellt.“ „Immerhin kann ich mich ja noch entscheiden, welche der Parteien ich wähle. Sind ja genug da.“ Jetzt lachte er schallend. „Das nenne ich originell! Na, dann legen Sie mal los und geben Sie mir ein bisschen Nachhilfeunterricht in Politik. Wofür steht denn zum Beispiel die SPD?“ Ich schwieg betreten. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Ich zeige Ihnen mal ein paar Entwürfe“, teilte er mir mit und verschwand unter dem Tisch, wo er einen großen Stapel Papierfahnen herauszog. Gemeinsam breiteten wir die Bekanntmachungen aus. Arbeit war da zu lesen, und Zukunft, Nachhaltigkeit, Verantwortung. Die Kürzel der Parteien waren abgeklebt, die Köpfe ausgeschnitten. „Raten Sie“, forderte mich Lotterer auf. „Raten Sie, wer was versprochen hat. Sie werden erstaunt sein.“ Und tatsächlich, nicht ein einziges Mal lag ich richtig. Ob Freiheit für Steuerbetrüger oder Aus Liebe zur Rüstungsindustrie – jetzt den Hindukusch platt bomben, ich konnte es nirgends zuordnen. Lotterer nickte verständnisvoll. „Mir geht’s ja auch so, wenn ich mal auf der Straße unterwegs bin. Die sehen ja alle gleich aus.“ „Aber was ist denn die Botschaft“, fragte ich ihn, „was ist der Grund, überhaupt so eine Nullaussage auf die Straße zu stellen?“ „Damit verortet sich der Bürger in der zeitgenössischen Demokratie. Die Aussagen sind egal, denn nach der Wahl wird sich erstens keiner mehr daran erinnern können, ja man wird es als Zumutung ansehen, überhaupt an Versprechen gemessen zu werden.“ „Und zweitens?“ „Zweitens“, fuhr Lotterer fort und schmierte noch ein bisschen Walzenfett auf das rechte Brillenglas, „sind diese Sachen doch sowieso nie finanzierbar. Oder ist Ihnen schon mal eine Steuersenkung über den Weg gelaufen seit der letzten Wahl?“
Während die Maschine brüllend Bogen um Bogen ausspuckte, kontrollierte Lotterer den Papiernachschub. „Die Wirtschaft“, schrie er, „macht ja ohnehin, was sie will.“ Röhrend rauschte der Druckstoff über die rappelnden Walzen, ein blaubraungrauer Brei, konturlos, zischend, schnell wieder verschwunden. „Man bräuchte also Ihrer Ansicht nach die Politik gar nicht?“ Er schüttelte den Kopf. „Durchaus doch – es muss ja einer die Verwaltungsmaßnahmen durchführen, und es sichert eine Menge Arbeitsplätze für Juristen, die sich beim Staatsexamen dumm angestellt haben. Aber wozu Parteien?“ „Um bei der politischen Willensbildung des Volkes zu…“ „Ach Quatsch“, knurrte Lotterer. „Wenn sie einem bei jeder Kleinigkeit vorhalten, dass es zu ihren kaum logisch nachzuvollziehenden Handlungen und ihren Milchmädchenrechnungen gar keine Alternativen gibt, wozu braucht es denn dann noch Parteien?“ Das leuchtete mir allerdings ein. „Der Bürger wird also nicht mehr gebraucht nach der Wahl. Aber wie passt das zur Identifikation mit der Demokratie?“ „Bestens“, antwortete Lotterer. „Bestens, denn die Parlamentarier werden auch nicht mehr gebraucht. Ein paar Kommissionen holen sich Zahlenmaterial aus der Wirtschaft, wobei die Wirtschaft meistens die Kommissionen gleich mit bestückt, dann schreiben Anwaltskanzleien die Gesetze so, wie sie genehm sind, und die Volksvertreter nicken es ab. Der kleine Unterschied, er ist keiner mehr und die Wahl keine Wahl.“ Er zog einen komplett weißen Bogen unter dem Tisch hervor. „Das wird das Plakat der Zukunft sein. So und nicht anders.“ Eine völlig leere Fläche lag vor uns. Völlig leer? Nein, da stand doch etwas am unteren Ende, ganz klein, und ich musste mich sehr nah über das Papier beugen, um es lesen zu können: Wahl. Ist ja auch egal.
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