Stotterbremse

17 01 2011

„Meine Güte, das nennen Sie Orientierung? oder am Ende noch Neuorientierung? Fortschritt? Dieses Gehampel? Hören Sie mal, für jeden anderen hätte ich eben in die Schreibtischschublade geschaut, ob da noch ein Gutschein über einmal kostenlose Sterbehilfe liegt, aber für die SPD? Brauchen Sie den überhaupt noch?

‚Neuer Fortschritt und mehr Demokratie‘ – zwei Nummern kleiner war wohl gerade in der Wäsche? Das nennen Sie ein Programmpapier? Haben Sie sich noch nicht genug blamiert mit diesem elenden Schlingerkurs? Was soll das eigentlich werden, wenn’s fertig ist? Die Fundamentalopposition gegen die Ex-SPD der Großen Koalition oder die Endabrechnung mit Gas-Gerd? Oder suchen Sie sich jetzt einen vielseitig einsetzbaren Kriegsgrund, um den Grünen in die Hacken zu treten und nach alter Sitte wieder den Schwanz einzuziehen, falls sie irgendwann größer werden sollten als die SPD? Haben Sie sich wenigstens schon mal grob für die Richtung entschieden, in die Sie die Partei vor die Wand fahren wollen?

Also Fundamentalopposition. Einzusehen. Das, was Merkel und Westerwelle und Seehofer da gerade abziehen, ist auch mit sehr viel Schnaps nicht mehr zu ertragen. Diese aufgepumpten Wirtschaftsprognosen – wer nichts aus der Krise lernt, will sie wohl wiederholen. Und wenn man es nicht besser wüsste, würde man annehmen, Merkel kriegt jetzt die Rache für den verpatzten Euro-Rettungsschirm: sie kommt bei Schäuble unter die Räder. Aber dann hätte die Frau wenigstens einmal so etwas wie Profil im Gesicht, oder? Also was, ja oder ja? Sie wollten doch dagegen sein, schon vergessen? dann seien Sie es eben auch, aber bitte mit eindeutigem Programm. Was haben Sie denn zu bieten außer etwas Spektakel? Erst in Stuttgart die Landesregierung an die Wand nageln wollen und dann gemeinsam mit den Grünen rauf auf die Eier, sobald die Tanzmusik erklingt? Keine Meinung zum Euro-Krieg, fleißige Durchhalteparolen für die Versicherungsindustrie? Was für eine verpatzte Gelegenheit, ein für allemal die Geschichte hinter sich zu lassen und aus der Opposition heraus eine echte Perspektive zu entwickeln, eine Alternative für dieses schwarz-gelbe Fiasko! Fortschritt in Europa, Fortschritt mit einer richtigen Bankenaufsicht, mit einer richtigen Finanztransaktionssteuer, mit einer Reichensteuer, mit Atomausstieg, mit einer guten Bildungs- und Sozialpolitik und… Bundesrat? Sie meinen, Sie würden Ihre Ideen besser der CDU für die nächste Kanzlerschaft überlassen, weil sonst die Rentner Angst hätten? Dann doch lieber mal gar nichts ändern und zusehen, wie der Karren in den Dreck fährt? Stotterbremse? Das ist eine Option?

Also Endabrechnung? Sie wollen die ganzen Altlasten über Bord schmeißen und ohne den Agenda-Lobbyismus und den Privatisierungswahn eine neue sozialdemokratische Politik machen? Brillante Idee, wo fangen Sie an? Ah, lassen Sie mich raten: die Gewerkschaften haben Ihnen verboten, von Mindestlohn zu sprechen, weil sie sonst nicht mehr wissen, womit sie in die nächsten dreißig Jahren ihren Wahlkampf bestreiten sollen. Sie können sich noch nicht von den Hartz-Gesetzen distanzieren, weil sie sonst eine Forderung der Linken erfüllen müssten. Sie können nicht aus Afghanistan raus, weil sie sonst aus Afghanistan raus wären, stimmt’s? Großartig. Sie wollen nicht ertrinken, deshalb saufen Sie den Teich leer.

Bevor dann gar nichts mehr geht, machen Sie lieber den psychologisch wichtigen Wechsel in Baden-Württemberg kaputt, richtig? Das nenne ich neuen Fortschritt. Zumindest ist das die neueste Definition von Fortschritt, die mir untergekommen ist. Alternativlosigkeit haben Sie hoffentlich auch berücksichtigt? und immer schön das gute, alte Wo-wir-sind-ist-Mitte-Klischee bedienen, ja? Immer feste auf die Grünen eindreschen, damit die Partei im Falle eines ungeplanten Wahlsieges sich in die ideologische Grätsche flüchten kann? Sie meinen auch, wer oft genug gegen die Wand gefahren ist, der weiß inzwischen, wo’s lang geht?

Machen Sie sich keine Sorgen, Westerwelle kündigt die Koalition mit der SPD in Hamburg nur an, damit er verhindern kann, dass die Sozialisten mit einem antikapitalistischen Reformprogramm Deutschland beim Abschaffen helfen. Sein Hauptziel ist Regierungsbeteiligung, um inhaltliche Fragen geht es der FDP ja eher selten.

Verraten Sie mir doch mal, was denn der neue Fortschritt sein soll. Wenn wir sowieso gerade von Demokratie reden, weshalb nicht ausnahmsweise auch mal von Partizipation? Die Befragung der Parteibasis konnte nicht durchgeführt werden – woran lag es diesmal? Ach, sie hatten auch nicht mehr die Zeit, die Bürgerinnen und Bürger? Sie waren immer gerade auf Arbeit? Sie hockten vor dem Fernseher und mussten sich die SPD-Hanseln in den Talkshows ansehen, die auch nichts besser wussten als ihre CDU-Kollegen? Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich mit Ihnen zu beschäftigen, während Sie zu beschäftigt waren, um sich mit ihnen zu beschäftigen?

Nun mal raus mit der Sprache, was ist denn Ihr Patentrezept? Was machen Sie denn nun, was wir in dieses Programmpapier noch hineinlesen könnten? Selbstbeschwörung? Ja, das ist eine Möglichkeit. Damit ist die Sozialdemokratie schon immer sehr gut gefahren.“