Vor uns die Sintflut

18 01 2011

„Auf jeden Fall was mit Ausländern!“ Stifter schob energisch seine Brille zurecht; die anderen zogen die Stirn in Falten, nagten an der Unterlippe oder starrten einfach Löcher in die Luft und warteten, dass den anderen etwas einfiele. Siebels schwieg. Er war diesmal nur Beobachter. „Sagen Sie mal“, fragte ich ihn, „wird auf Redaktionssitzungen nicht üblicherweise erst einmal der Inhalt besprochen?“ Der große Fernsehmacher nickte. „Üblicherweise, ja. Aber was ist schon normal heutzutage. Und was ist heutzutage schon normal in einer Talkshow.“

„Also mit Ausländern“, wiederholte Stifter, sichtlich nervös und inzwischen leicht verärgert, weil dem Team nicht viel Neues in den Sinn kam. Eine kleine Blonde meldete sich schüchtern. „Und wenn wir das mit der illegalen Einwanderung nach Amerika…“ „Deutschland“, fiel Stifter ihr ins Wort. „Es ist Deutschland hier, kapiert? Wir können dem Zuschauer nicht irgendwelche Themen vorsetzen, die außenpolitische Zusammenhänge voraussetzen. Die Leute sind dumm, klar? Und dabei soll es auch bleiben.“ Verängstigt schlug sie die Hand vor den Mund. Doch Stifter war noch nicht am Ende. „In der nächsten Ausgabe macht Fratzberg etwas über die gefährlichen Einwanderungsbewegungen nach Griechenland, und Dienstag ist bei Schreckmann eine Sendung, wie der Sozialbetrug fast Frankreich ruiniert hätte, wenn er denn stattgefunden hätte.“ Petershagen, der unrasierte Typ mit der dicken Hornbrille, rümpfte demonstrativ die Nase. „Dass das Themen sind, die nur mit außenpolitischem Hintergrundwissen Sinn machen, ist Ihnen natürlich sofort aufgefallen.“ Der sarkastische Ton in seiner Stimme drängte Stifter in die Defensive. „Ich weiß selbst, dass das global bedeutsam ist.“ Da zog Petershagen genüsslich die Schlinge zu. „Also kein für Deutschland relevantes Thema, richtig?“

„Das verstehen die hier unter inhaltlicher Auseinandersetzung?“ Ich war empört, aber das brachte Siebels überhaupt nicht aus der Fassung. „Von Inhalt hat hier keiner etwas gesagt.“ Er nippte an seinem kalten Automatenkaffee. „Wenn Sie ab und zu Die Härte mit Hans Fratzberg ansehen, werden Sie feststellen, dass eine Sendung nur marginal mit dem Titel zu tun hat.“ „Also wird hier nur das Thema erfunden?“ Beinahe gequält sah mich Siebels an; ich begriff, als er antwortete: „Eben nicht. Das Thema ist so gleichbleibend wie egal, es geht um den Titel. Ohne einen effektiven Titel schaltet keiner die Glotze ein.“ „Und Sie glauben, dass das wirkt?“ „Haben Sie mal die Einschaltquoten gesehen?“ Ich verneinte. „Sollten Sie aber. Und Sie sollten sich auch dafür interessieren, was in diesen Sendungen geboten wird.“ Er zupfte ein Papier aus seiner Mappe. „Kalenderwoche vierzig: ‚Bänker, Bonzen, Boni – Wer vergeudet unser Geld?‘ Es kam klar heraus, dass Arbeitslose geldgierige Schmarotzer sind. Kalenderwoche einundvierzig: ‚Euro-Krise und kein Ende – Deutschland in der Schuldenfalle.‘ Tenor der Sendung war, dass die Arbeitslosen das Land ruinieren und zum stalinistischen Terrorstaat ummodeln wollen. Kalenderwoche zweiundvierzig: ‚Mission Impossible – Die Rache der Taliban!‘ Es ergab sich…“ „… dass die Arbeitslosen durch ihre unverschämten Forderungen nach Grundrechten dem Krieg in Afghanistan die finanzielle Basis entziehen und daher eigentlich wie Terroristen als rechtlose Personen verfolgt werden müssten.“ Siebels schmunzelte. „Ah, Sie haben die Sendung also doch gesehen?“

Inzwischen hatte Petershagen schon die Leitung an sich gerissen. „Natürlich wollen wir auch den sozialen Aspekt betonen“, verkündete er. „Kinder, Bildung, solche Sachen eben. Oder etwas über die Entbehrungen der Oberschicht.“ Ein dicklicher Glatzkopf schnippte mit den Fingern. „Hier, die Kinder kriegen nicht jeden Tag ein neues Pony geschenkt, obwohl die Eltern dazu durchaus in der Lage wären. Disziplin als Ziel in der vorbildlichen Erziehung.“ „Lensing“, ätzte die Hornbrille, „Sie wissen aber schon, dass wir das nicht machen können? Denken Sie vielleicht mal mit? Oder sind Sie damit schon intellektuell überfordert?“ Der Kahle murmelte etwas vor sich hin von Sozialporno und verantwortungsvoller Mediendarstellung, doch Petershagen machte seiner Empörung Luft. „Haben Sie den Sendeplan denn gar nicht mehr im Kopf? In zwei Wochen sendet Kreischzwerger ihre Show mit den drei Millionären, die ihren Kindern zum 18. Geburtstag keine Segeljacht schenken. Da können wir doch nicht fünf Tage später denselben Stoff nehmen, das gibt doch Stress mit den Darstellern!“

Siebels schloss für einen Moment die Augen, als kämpfe er gegen eine plötzliche Müdigkeit an. „Hatte ich Ihnen zu viel versprochen?“ „Es ist wirklich die Sintflut“, nickte ich, „aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt.“ Er blickte ins Leere. „Sie schieben es vor sich her. Es wird eines Tages über uns hereinbrechen und wir werden sagen, wir hätten es wohl aufhalten können, wenn wir nur darauf regiert hätten. Die Sintflut liegt noch vor uns, aber es ist klar, dass sie kommt. Wir haben selbst die Dämme brechen lassen – alle Dämme.“ Er tastete nach seinen Zigaretten. „Kommen Sie“, sprach er heiser. „Ich brauche jetzt frische Luft.“

Während wir den Raum leise verließen, hörte ich noch, wie Petershagen hasardierend durch neue Themen stolperte. „Internet ist natürlich auch gut“, beschwor er die Redakteure, „da können wir auch voll auf die Kerninkompetenz der Zuschauer setzen. Was halten Sie denn von ‚Google, Facebook & Co. – Deutschland fast vernichtet im Würgegriff der Datenschnüffler‘?“