Fieberkurve

20 01 2011

„Den Umständen entsprechend, Herr Kollege. Wir können noch nichts sagen. Momentan hat sie die Nase voll. Das hat aber auch keiner vorhersehen können, dass die Therapie so in die Hose geht. Alle vernünftigen Berater und die anderen Ärzte und die Leute aus der Pharmabranche, alle waren dagegen, dass die Kanzlerin homöopathische Mittel gegen die Grippe nimmt. Und jetzt liegt sie flach.

Natürlich sieht man es ihr an. Wir wollten ihr schon Bettruhe verordnen, aber sie lässt ja nicht mit sich reden. Schutzimpfung kommt jetzt natürlich auch viel zu spät. Höchstens noch Zwiebelsaft mit Kandiszucker, aber wenn ihr jemand verrät, dass das Rezept von Claudia Roth kommt, dann spuckt sie das gleich wieder aus. Nichts zu machen. Will sie nicht. Sie hatte irgendwo eine Broschüre über Wunderheilung in die Finger bekommen – Brüderle liest doch immer so einen Mist, der glaubt ja auch an Marsmännchen, die die Löcher in den Käse bohren, und an Vollbeschäftigung – und die Koalition mit den Liberalen beschlossen. Und jetzt fängt das Dilemma an: hohe Potenzen, ganz und gar aus der Regierung rausverdünnt werden muss die FDP, aber glauben Sie, dass das hilft? Schauen Sie sich die Merkel an. Die schnieft.

Man soll mit so einer Erkältung nicht spaßen, Herr Kollege. Es ist nicht nur das Fieber, es zehrt auch an den Kräften. Schwindsucht, kennen Sie das? Schlimm. Systemisches Versagen. Überhaupt kein Volumen mehr vorhanden. Schwere Störungen. Baden-Württemberg, Hamburg, Rheinland-Pfalz, alles nicht einfach. Die FDP steht ja nur noch in homöopathischen Dosen zur Verfügung, und Sie wissen ja, wie das ist. Wenn Sie das immer und immer wieder verdünnen und verwässern, dann ist halt nichts mehr übrig. Sie rechnet zwar noch so wie ihre Geistheiler aus dem Kanzleramt: vierzig und drei Prozent sind dreiundvierzig, als gäbe es keine Fünf-Prozent-Hürde, aber das werden Sie ihr nicht mehr austreiben. Abteilung Agitation und Propaganda, Sie wissen schon.

Völlig unvorbereitet. Wie aus heiterem Himmel, wissen Sie? Gut, ab und zu unterhält man sich mal mit dem Briefträger an der Haustür, aber sonst hat man doch keinerlei Kontakt mit der Außenwelt. Nichts. Höchstens mal eine Diskussion um die Steuersenkung vor der Steuererhöhung, aber das zählt ja wohl kaum. Nichts. Absolute Ruhe. Auch der Herbst der Entscheidungen, erinnern Sie sich? Das waren die zwei, drei Tage, wo Merkel beim Nichtstun kurz weggenickt ist.

Was meinen Sie, was sie für ein Theater gemacht hat bei den Essigwickeln. Wollte sie nicht, konnte sie nicht vertragen, durfte nicht sein – muss der blöde Pofalla ihr aber auch vorher verraten, dass das von Trittin kam. Wollte sie nicht! Na, Sie kennen ja die Merkel. Wie beim Rettungsschirm: sie weiß, dass es vernünftig ist, und dann macht sie es nicht, weil es ihr nicht selbst eingefallen ist.

Momentan arbeiten wir ja vorwiegend am Wohlfühlfaktor. Das mit den Viren kriegen wir schon in den Griff, aber erstmal muss natürlich das Publikum von der Krankheit verschont bleiben. Wenn jetzt jeder in Panik gerät, weil die Kanzlerin krächzt, das wäre kontraproduktiv. Also arbeiten wir mit den üblichen Mitteln. Zuversicht, Salbei, Vollbeschäftigung, Spitzwegerich, Codein, und wenn gar nichts mehr funktioniert: Terrorismus. Man muss ja irgendwie über die Runden kommen.

Wissen Sie, Herr Kollege, das ist das typische Bild: der Patient verspricht gute Compliance, lobt den Arzt und seine Ratschläge, aber zu Hause pfeift er auf Diät und Tabletten und stopft sich voll. Tolle Ratschläge an die Wirtschaft, dass sie auch ja die Arbeitnehmer nicht vergessen, und Mindestlohn für die Zeitarbeitsbranche. Und wenn der Arzt wieder weg ist, erstmal ein Schnaps auf den Aufschwung. Dagegen kommen wir nicht an, im Gegenteil: wenn wir dagegen reden, sind wir schon Dagegenpartei, verstehen Sie?

Will sie nicht. Keine Chance. Sie wird der FDP etwas husten! Die haben sich jetzt strikt an die Anweisungen zu halten, die der Arzt für die Merkel ausgibt. Wegen Sparens im Gesundheitsweisen: wenn Sie jemanden mit denselben Symptomen finden, Regierungsmüdigkeit, deutsche Depression, Lustlosigkeit, Denkschwäche, unkontrollierter Redefluss, dann schicken sie den zum Arzt, das kommt billiger, weil sie selbst nicht die ganze Zeit im Wartezimmer sitzen müssen. Gruppentherapie, verstehen Sie? Einmal zum Onkel Doktor für die ganze Koalition. Deshalb pöbelt jetzt Lindner, der demnächst Westerwelles Nachfolger als designierter Ex-Vorsitzender wird, die CDU an und bettelt um Leihstimmen, damit er wieder Mehrheitsbeschaffer ohne politisches Programm werden darf. Man wird bescheiden, wenn man krank ist. Vor allem, wenn man erst begriffen hat, dass jede Krankheit durch die Behandlung schlimmer wird.

Dabei geht es ihr ja vornehmlich um die Industrie. Und in erster Linie um Ehe und Familie, vor allem für die begüterte Mittelschicht im oberen Bevölkerungsdrittel. Herr Kollege, Sie kennen das. Man weiß nicht, wie man es dem Patienten beibringen soll, also sagt man: ich habe so den Eindruck, innerhalb der nächsten Tage werden Sie die Klinik verlassen. Und das tut er dann auch.“