Prêt-à-porter

22 02 2011

Das Model stakste wie ein übermüdeter Storch durch den leeren Saal, ungeschminkt und mit dem blasierten Gesicht, das man ihr aufgeschraubt hatte. Der abgeschabte Wintermantel hing ihr um die knochigen Schultern wie ein Mehlsack. Hübschler lehnte sich lässig zurück. „Die Kleine kommt gut. Sieht voll scheiße aus, sehr authentisch. Wie eine echte Arbeitslose.“

Zwei Stylisten zupften an der dürren Blondine herum, der nun hastig eine unförmige Strickmütze übergestülpt und krummgelaufene Stiefel an die Füße gestopft wurden. Sie ließ es sich gefallen; wie eine Lumpenpuppe pendelten ihre Arme, sie war völlig willenlos. „Das wird der Oberknaller!“ Der Modeschöpfer blickte zufrieden auf sein Werk. „Sie werden uns die Kollektion aus den Fingern reißen auf den großen Shows – Magdeburg, Bremen, Berlin.“ „Magdeburg?“ Ich war irritiert. „Ich hätte eher Mailand erwartet, aber warum Magdeburg?“ „Weil Sachsen-Anhalt nach wie vor eine der Hochburgen für sozial Schwache ist. Sollen wir die Show jetzt ins Starnberg machen, wo die ganzen Kaltgestellten eh nichts zu suchen haben?“ Er ging ein paar Schritte auf und ab, fingerte an seiner Sonnenbrille und rief den Helfern zu: „Wenn das zu spektakulär aussieht, holt das Teil in Dunkelgrau. Ich finde, sie sieht sowieso viel zu gesund aus. Klatscht ihr ruhig ordentlich was aufs Gesicht!“

Die Kleiderständer hinter dem Vorhang trugen eine Menge verschlissener Klamotten, verblichene Hosen und ausgeleierte Strickjacken, hier und da ein Hemd, das bessere Tage gesehen hatte, und sehr viel unförmige, altmodische, drittklassige Schnitte. „Das ist nicht einfach nur Vintage, ja? Das ist eine neue Definition meiner Kunst. Meiner Message, ja? Ich erfinde damit das Prêt-à-porter total neu als eine soziale Aussage, als eine tragbare soziale Plastik. Das hat es doch noch nie gegeben!“ Ich fuhr mit dem Finger an einer Reihe Strickwaren entlang, die einen leichten Staubflaum in die Luft abgaben. „Sagen Sie mal, Hübschler…“ Sofort richtete er sich auf und fauchte mich an. „Für Sie immer noch Hüübschler, ja?“ „Doktor haben Sie zufällig keinen“, biss ich zurück. Er beruhigte sich schnell wieder. „Es geht nicht darum, Kleidung als einen Ausdruck von Individualität zu tragen, das muss ich Ihnen doch nicht erklären?“ Ich winkte ab. „Nein, durchaus nicht. Ihr Veranstalter hat mir erklärt, dass es um Kleiderkammern für Arbeitslose geht. Individualität wird man da nicht erwarten.“

Der abgewetzte Mantel hing in etlichen Farben auf den Bügeln: Anthrazit, Flaschengrün, Braun, Schwarz und Braunschwarzgrüngrau. Wie die Dienstgrade einer Uniformreihe sahen die schlaff und teigig geschnittenen Kleidungsstücke aus. Da fiel mir plötzlich eine aufgescheuerte Stelle am rechten unteren Saum auf – ein kleines Loch, das sich bis ins Futter durchfraß, immer bereit, wie eine Wunde aufzuribbeln und den Träger dieses Mantels peinlich bloßzustellen. Zu meinem Erstaunen zeigte jedes Stück, schwarz und braun, dasselbe Loch. „Logisch“, bemerkte Hübschler. „Wir arbeiten eben mit dieser Bricolage – wildes Denken, ja? Man nimmt, was da ist, weil, viel ist nicht da. So ein Hartz-IV-Ding. Wenn wir diese Klamotten für die Arbeitslosen herstellen, dann sollen die auch so aussehen wie die gesellschaftliche Unterschicht.“ „Sie wollen nicht ernsthaft behaupten, dass Sie die Löcher in die Wintermäntel scheuern, damit die Menschen sich damit deklassiert vorkommen?“ Er schnappte zurück. „Deklassiert? Wo denken Sie nur hin? Wissen Sie eigentlich, was es kostet, die ganze Lieferung mit der Drahtbürste zu zerscheuern!? Das grenzt an spätrömische Dekadenz!“

Chouchou (wie auch immer sie wirklich hieß) zog gerade einen zwanzig Jahre alten Pullover an. „Sie lassen diesen Einheitslook nachproduzieren für Käufer, die sich nichts Besseres leisten können?“ Hübschler gluckste. „Nichts Besseres? Mann, wachen Sie mal auf! Die Hose da kostet uns im Einkauf schon mehr als einen Regelsatz, ohne die Subventionen der Armutsverwaltung kämen wir da gar nicht hin!“ Ich blickte ihm hart ins Gesicht. „Sie bereichern sich auf Kosten der Armutsverwaltung.“ „Kleider machen Leute“, grinste er, „und ich werde gut bezahlt dafür. Außerdem ist die Produktion ein enormer Kostenpunkt – ohne die Vermittlung des Außenministers wären wir nie an Näher in Birma gekommen, und das ist doch eine enorme Hilfe für den Markt in Deutschland, ja?“

Hübschler schob die Kleider auf der Stange hin und her, um ein neues Outfit für das Mädchen zu finden; wahrscheinlich sah nichts ärmlich genug aus. „Sie entwerfen eine Uniform für Arbeitslose, damit sie ihr Stigma in den öffentlichen Raum tragen – kostspielig genug aufgebaut, nicht mit einem Zufall zu verwechseln. Was wollen Sie damit erreichen? Besteht Ihre soziale Plastik darin, dass man angewidert die Straßenseite wechselt, wenn man jemanden in diesen Fischgrätfeudeln vor sich sieht?“ „Es dient der Emanzipation“, verteidigte sich Hübschler. „Die werden ein Gruppengefühl entwickeln, ja? Da bin ich mir sicher. Damit kann man sich nicht mehr verstecken. Dann wissen die doch wenigstens, wofür man das trägt. Glauben Sie denn, wir machen das hier alles umsonst?“

Der anthrazitfarbene Mantel hatte einen kleinen Haken an der Brust, zwei kleine Häkchen, man fühlte es, wenn man mit den Fingern über den Stoff strich, links, da oben. Der flaschengrüne, der braune auch. Auch der schwarze. Chouchou schob mir müde den Schuhkarton über den Tisch. Es waren Sterne, sauber gesäumt, und wir wussten, wozu.