Anstandsloser Wohlstand

7 03 2011

„Es ist nicht zu fassen. Sie rennen ihm nach.“ „Was haben Sie denn erwartet? Es ist Deutschland hier.“ „Und eine ganze Schar von Idioten…“ „Von denen die meisten aber nicht einmal existieren, vergessen Sie das nicht.“ „… verteidigt diesen Hochstapler gegen jedes Recht. Das ist doch eine Umwertung aller Werte!“ „Höchstens eine Umkehrung der Verhältnisse, meinten Sie?“ „Eine Umwertung. Was vorher noch als Konflikt von Interessen deutbar war, das ist nun eine Negation der Ethik geworden.“

„Zunächst ist es aber nur eine etwas paradoxe Art, den Bürgern ihr heimliches Ideal zu nehmen.“ „Sie meinen, das Volk jubele dem Plagiator zu, weil er sich ernsthaft als Identifikationsfigur eignete? Oder ist er ihr Wunschtraum einer unerreichbaren Figur?“ „Das Charisma dieses Schnösels ist nicht entscheidend, er hat nur scheinbar geschafft, was ihr Inbegriff der neoliberalen Erfüllung ist: ohne Anstrengung bis ganz an die Spitze zu kommen.“ „An die Spitze? Er war doch noch gar nicht Kanzler und wird es auch nie werden. Und er ist auch nicht so voraussetzungslos aufgestiegen, wie es sich der deutsche Michel ausmalt.“ „Richtig beobachtet, darin beruht ja auch eine Hälfte des Denkfehlers.“ „Und die andere?“ „Fokussiert, dass der angeblich zielgerichtete Aufstieg eines unbegabten jungen Mannes nur auf persönlichen Fähigkeiten fußt, und nicht etwa auf fortgesetzten Betrug, Inkompetenz und Machtspielchen.“ „Und was ist daran nun so verlockend, dass es für einen Großteil des Mobs zum Märchen gerinnt?“ „Die Bedingungslosigkeit. Es gab und gibt keinen Grund, diesen Mann für irgendetwas zu respektieren – es gibt auch keinen Grund, diesen Versager zu bezahlen, und doch wird er für seine Unfähigkeit reichlich entlohnt.“ „Und das ist eine Wunschvorstellung?“ „Natürlich. Was erwarten Sie in einem neoliberalen Weltbild, in dem der gesellschaftliche Status eines Menschen, sein Einfluss und seine Anerkennung nichts mehr mit seiner Leistung oder seinen Fähigkeiten zu tun haben? Dieses System braucht Krankenschwestern und Fabrikarbeiter, die wie Abschaum behandelt werden, um mit dem von ihnen erwirtschafteten Geld Aktionäre zu füttern.“ „Wer wohlstandslose Leistung erbringt, träumt von leistungslosem Wohlstand?“ „So ähnlich.“

„Warum dieser Bruch? Warum dieser offenbare Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Wie kommt das zustande?“ „Weil der Feudalismus nur mit einer Lüge aufrecht zu erhalten ist. Sie sehen es ja: es funktioniert. Je mehr Idioten einem Blindgänger zujubeln, desto besser hat es geklappt. Und die Lüge geht weiter.“ „Die Lüge ist auch nur eine Form der Gewalt – sie ist die Gewalt derer, die zu feige sind, eine Waffe in die Hand zu nehmen.“

„Der zweite Schritt: die Umkehrung der Ideale. Sie träumen doch von der Bedingungslosigkeit?“ „Ein bedingungsloses Grundeinkommen? Warum nicht?“ „Weil man Ihnen in dieser neoliberalen Ideologie den Leistungsgedanken als primäre sittliche Kraft eintrichtert. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ „Mit dem Unterschied, dass ich auch nicht unbedingt zu essen habe, wenn ich arbeite.“ „Gleichwohl die Leistung als ein Ideal und Arbeit als Voraussetzung der sozialen Teilhabe geadelt wird, entwertet das System sie durch den Arbeitszwang und benutzt die Leistung als Strafe.“ „Man ist also zur Freiheit verdammt? Kein neuer Gedanke.“ „Durchaus nicht; allein dieses Bübchen lebt dem Volk das Gegenteil vor: wie man durch möglichst geringe Leistung und ohne eigenes Zutun mit etwas Dreistigkeit aufsteigt und dabei alle gesellschaftlichen Konventionen außer Acht lässt.“

„Und dennoch ist es eine Umwertung. Und eine schlagartige Entwertung. Es ist das Ende der Moral an sich. Indem die bisherigen Hüter ihre sittlichen Grundsätze preisgeben, entziehen sie sich und ihre Handlungen der Rückbindung an das bürgerliche Verantwortungsbewusstsein.“ „Die Politik wird ihre Bindung an die bürgerlichen Hemmnisse los? Haben wir uns das nicht immerzu gewünscht?“ „Sie vielleicht, ich nicht. Den Anstand als bürgerlichen Flitter abzutun ist das Malzeichen einer sich als bürgerlich ausgebenden Kaste, die ihre Maskierung abwirft – den Anstand überhaupt als bürgerliches Vorurteil zu bewerten war schon immer ein Anzeichen des Totalitarismus.“ „Also ein System, das den sozialen Aufstieg, der aus der Leistung kommen soll, unmöglich macht – und zugleich den anstandslosen Wohlstand vorlebt, der jegliches Moralverständnis ad absurdum führt. Geschickt!“ „Umso geschickter, als die endgültige Entkopplung von Handlung und moralischer Bewertung hier im Vordergrund steht.“ „Bedarf das einer Erwähnung? ist es nicht längst die Elite, die ihre Vorstellung von Gut und Böse…“ „Nicht von Gut und Böse, sondern nur von Nützlichkeit. Die Auflösung des Bürgertums hat längst stattgefunden.“ „Ein allgemeiner Utilitarismus, der die Menschenwürde zwar zur Kenntnis nimmt, sie aber nach Kassenlage verwaltet.“ „Nein, eine Verleugnung der Würde aus naheliegenden Gründen: was allen dient, muss zwangsläufig geteilt werden – und Teilen würde bedeuten, Sklaven dieselben Rechte zuzugestehen wie den Herren. Die Lösung von der Moral macht es wieder möglich, wie in den guten alten Zeiten unterm Hakenkreuz, dass man seine Pflicht zu tun meint, und damit jede Schweinerei billig zu entschuldigen weiß.“ „Das Staatswesen kann auch weiterhin funktionieren?“ „Die Wirtschaft, das öffentliche Leben. Hauptsache, man kann dem Volk noch die Angst vermitteln, dass der eine des anderen Wolf ist. Ein Staat muss seine Allmacht nicht mehr selbst besorgen, er lässt seine Insassen aufeinander los. Ungemein praktisch, wenn man das Volk bereits so verroht hat, dass es Politik an den Maßstäben des Wundertheaters und Politiker an denen von Casting-Shows beurteilt.“ „Bei gleichzeitiger Pflege utopischer Wunschträume als Motivationshilfe.“ „Willkommen in der Hölle.“