Er schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um, bevor er das Fläschchen mit der stark riechenden Flüssigkeit aus der Innentasche seines Mantels zog; hastig fingerte er am Schraubverschluss, zischte einen Fluch durch die zusammengebissenen Zähne, doch er bekam es nicht hin. „Scheiß Terrorismus“, knurrte er. Ich nahm ihm den Flachmann aus den Fingern, öffnete ihn und kippte einen kräftigen Schuss Weinbrand in seinen Kaffee. „Jetzt regen Sie sich ab“, beruhigte ich ihn. „Das führt doch zu nichts, Glubbke. Seien Sie vernünftig.“
Er hatte seit Tagen nichts gegessen. Bleich und unrasiert hing Glubbke in seinem Korbstuhl vor dem Straßencafé, immer unter Strom, immer auf dem Sprung. „Es wird fürchterlich. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Nie!“ Mit fahrigen Händen zündete er sich eine Zigarette an. „Wie konnte das bloß passieren? Ich meine, die wussten doch alle, wer Osama bin Laden ist. Die haben ihn tagelang observiert. Sie haben ihn einfach umgebracht – das ist doch Wahnsinn!“ Ich blickte ihn verständnislos an. „War das nicht immer Ihr Ziel?“ Sein Gesicht verzerrte sich zu einer leidenden Grimasse. „Eben. Aber deshalb haben wir jetzt ja auch keins mehr. Wissen Sie – können Sie sich auch nur vorstellen, was das für uns bedeutet?“
Es war ernst. Die Kündigung hatte schon oft im Raum geschwebt, aber irgendwie war es dann doch wieder weitergegangen. „Vor der Wahl kam dieses Video, vor Weihnachten hat de Maizière gemerkt, dass vor Weihnachten manchmal Weihnachtsmärkte stattfinden, dann kam die Sauerland-Gruppe, und jetzt haben sie diese Terroristen geschnappt, die noch gar nicht wussten, wie man eine Bombe baut.“ Glubbke nestelte schon wieder an der Manteltasche herum. „Und das auch noch ohne Vorratsdaten“, stöhnte er, „die hätte man nie fassen dürfen, denn wir brauchen doch ein Argument, damit wir endlich wieder speichern dürfen, was einer alles noch nicht gemacht hat.“ Seine Hände zitterten leise. „Es muss nichts bedeuten, aber man hat schon manchmal den Eindruck, uns würde einer torpedieren.“ Er blitzte mich an. „Diesem Friedrich ist nicht zu trauen. Der macht uns noch alles kaputt, dieser Idiot.“
Ich bestellte noch einen Kaffee und blätterte ein wenig in den Tageszeitungen. Glubbke zog sich Zigaretten. Es wirkte etwas surreal, wie auffällig unauffällig er sich in seinem Trenchcoat und mit einer schwarzen Brille durch das Café tastete, links und rechts die Gäste fixierend, man hätte in jeder Sekunde damit rechnen können, dass er einfach davonliefe. „Jetzt entspannen Sie sich mal“, riet ich. „Natürlich war es ein Fehler, aber…“ Er schnappte zurück. „Ein Fehler? Das ist eine Katastrophe! Wir sind völlig aus dem Ruder gelaufen, weil wir nicht mehr wissen, was jetzt geschieht. Es musste ja so kommen. Keiner wusste, wie man hätte reagieren sollen, denn wir haben immer in einem Bereich gehandelt, den wir selbst nicht kannten.“ „Das müssen Sie mir erklären.“ Glubbke fischte eine neue Zigarette aus der Schachtel; er zerbrach drei Zündhölzchen, ich musste ihm Feuer geben. „Es nicht einfach Verbrecher, aber es sind auch keine Krieger, wie uns die Amerikaner immer einreden wollen. Man weiß nicht, ob man sie vor ein Kriegs- oder vor ein Strafgericht stellen soll. Es ist eine Kategorie, die es nicht gibt. Das war so nicht vorgesehen.“ Ich nickte. „Wir haben nur Fragen gestellt, ohne zu denken, dass man sie beantworten muss.“ Glubbke starrte auf seine Tasse. „Nach den Gründen fragen – wir müssen nach den Gründen fragen. Aber das wird keiner hören wollen.“
Ich schenkte Kaffee nach, er drückte die Kippe im Aschenbecher aus und schaute sich wieder einmal vorsichtig um. „Das Problem ist, dass wir keinen Grund mehr für den Terrorismus haben.“ Ich stutzte. „Das hieße, dass wir in eine normale Welt zurückkehren können?“ „Nein“, korrigierte er, „ich habe mich falsch ausgedrückt. Wir haben keinen Grund, wenigstens offiziell hatten wir noch nie weniger Gründe, uns vor dem Terrorismus zu fürchten, weil die Terroristen – nein, ich muss es anders erklären. Welchen Grund haben diese Terroristen, uns mit Terror zu drohen?“ Ich sah ihn fragend an. „Sagen Sie’s mir.“ „Sicherlich nicht der undifferenzierte Hass auf den Westen“, gab er zurück. „Das wäre doch etwas zu einfach. Macht ist ein Grund. Macht in Afghanistan, in Tschetschenien oder sonst wo. Geld. Öl, das Öl, das ihnen selbst gehört und das die amerikanischen Konzerne sich unter den Nagel reißen wollen. Aber der Westen als Feind? Unsinn. Dann würden sie ja nie mehr Geld und Waffen bekommen.“ „Und wer gibt ihnen einen Grund?“ Glubbke trank einen Schluck und stellte die Tasse zurück. „Wir“, antwortete er; „geben ihnen einen Grund. Unsere Vorstellung, Osama bin Laden wäre von irgendeinem Staat, von irgendeiner Gesellschaft legitimiert gewesen, führt uns dazu, gegen ein Phantom zu kämpfen, damit wir von den Nebeneffekten profitieren können. Waffen, Munition, Körperscanner, Chipkarten, alles muss irgendwie hergestellt werden und macht einen Fabrikanten reicher. Vorratsdatenspeicherung, Armeeeinsatz im Innern, Vorbeugehaft, DNA- und Zensusdatenbanken, alles lässt sich fordern, wenn man einen Gegner hat, dessen Macht keiner kennt. Das Problem ist, dass es nur ein Phantom gibt. Eine Vorstellung, die nicht existiert, ist unteilbar.“ Ich rührte in der Tasse herum. „Und welche Gefahr droht Ihnen? Dass sie ihren Rachefeldzug direkt vor unserer Haustür beginnen?“ Glubbke schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil“, flüsterte er. „Ganz im Gegenteil. Es wäre die Katastrophe, wenn sie uns einfach nicht mehr angreifen würden. Wenn diese Islamisten uns jetzt nicht angreifen, wenn die uns einfach im Stich lassen, dann sind wir verloren! Wir haben es immer gewusst, es ist das Problem des einen Thema.“ „Des einen Themas?“ „Stellen Sie sich eine Forderung vor, die eine extremistische Partei erhebt: Ausländer raus, Verstaatlichung der Industrie, Steuersenkungen. Wenn Sie nicht alles falsch machen, können Sie damit ewig überleben, weil es nie in Erfüllung geht. Schieben Sie das vor sich her wie den Horizont – rühren Sie nicht daran, dann bleibt es Ihnen erhalten.“ Er nahm eine neue Zigarette aus dem Päckchen. „Und das ist das Problem: wenn wir jetzt nicht bald einen richtigen Sprengstoffanschlag haben, wird man uns nicht mehr brauchen. Denn woher sollen wir ein neues Phantom nehmen? Wen sollen wir innerhalb so kurzer Zeit aufbauen?“ Er seufzte auf, tief und verbittert. „Die Revolution frisst ihre Kinder.“
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