Siebels kniff die Augen zusammen. „Wie viele haben wir noch?“ „So um und bei achtzig“, rief der Assistent und vertiefte sich wieder in sein Skript. Ich reichte Siebels einen frischen Kaffee. Er nippte einen kleinen Schluck und stellte den Becher neben sich auf den Studioboden. „Gut, packen wir’s an.“
Die nächste Kandidatin kam herein, eine etwas verhuschte Endvierzigerin mit schlecht gefärbtem Rotguss und reichlich Bedarf für eine profunde Stilberatung. „Mein Name ist Sabine Hoppmann“, quoll es aus ihr heraus, „ich bin verheiratet, drei Kinder, mein Mann ist leitender Einkaufsleiter im Heimwerkermarkt, wir haben ein Haus in der Eifel, acht Zimmer, Garten, Schwimmingpool, die Fenster sind gerade neu und unser Hund hat…“ Siebels zuckte unmerklich und vollführte eine abwehrende Geste mit der Hand. Der Assistent zerrte die Widerstrebende zur Seite. Eine Fernsehkarriere endete, bevor sie noch hatte beginnen können. „Ich wollte nicht warten, bis sie irgendwas über sich selbst erzählt“, murmelte der TV-Producer. „Wenn wir letztlich ohnehin nur Selbstdarsteller zeigen, dann können wir bei der Auswahl nicht unbedingt mit Samthandschuhen vorgehen. Nächster!“
Klaus Kassebier hatte es wohl besser geplant. Der mutmaßliche Maurermeister setzte sich auf den Hocker, stellte sich gar nicht erst vor uns erwartete geduldig die Fragen. „Dann bin ich rüber aus Sachsen-Anhalt, und seitdem waren da auch so gut wie fast gar keine Straftaten mehr.“ Siebels horchte auf. „Ich bemerke hier eine leichte Affinität“, forschte er nach. „Könnten Sie sich möglicherweise mit Vermögensdelikten befassen oder näher mit dem Thema Steuerhinterziehung beschäftigen?“ Kassebier nickte. „Das kann ich wohl, ich kenne da den Hannes, der hat das Bräustübel und macht jedes Jahr seine…“ Er biss sich auf die Zunge. Siebels lächelte. „Wir kommen uns näher. Sehr schön, jetzt müssten wir bloß noch wissen, ob Sie sich für eine der folgenden Parteien interessieren.“ „Ja also, Interessieren ist jetzt wohl auch schon zu viel gesagt“, wand sich der ehemalige Fernfahrer (wir sollten später erfahren, dass er kein Maurer, wohl aber Personenschützer, Einbrecher, Taxifahrer, Autodieb und Vertreter für ein Finanzunternehmen gewesen war, ein verhältnismäßig eng umrissenes Tätigkeitsgebiet mithin), „aber die da? Nein! Die wählt doch kein normaler Mensch! Rattenfänger sind das, mit denen will ich nichts zu tun haben!“ Er war absolut nicht davon abzubringen und schüttelte seine Fäuste gegen das Pappkärtchen, das ihm Siebels mit einer Reihe anderer vorgelegt hatte; offensichtlich hatte der Mann mit der SPD schon unschöne Erfahrung gemacht in der Vergangenheit.
„Merken Sie sich das Gesicht“, zischte Siebels mir zu, „den nehmen wir in die engere Auswahl.“ „Aber was wollen Sie den Mann denn bloß spielen lassen“, begehrte ich auf. „Der ist ja nicht einmal für einen Strauchdieb im Fernsehkrimi qualifiziert genug.“ Der Formatfuchs grinste. „Haben Sie eine Ahnung!“ Kassebier beschäftigte sich eingehend mit seinen Fingernägeln; er hatte längst aufgehört, dem Gespräch über ihn zu folgen. Vermutlich war er es schon so gewohnt. „Der ist für Sie vielleicht nicht der große Hauptgewinn, aber für einen versoffenen Chefarzt oder einen korrupten Kommunalpolitiker können Sie sich doch gar keine bessere Besetzung vorstellen. Absolut gefühlsecht“ Ich stutzte. „Was, Kommunalpolitiker? Haben Sie nicht gesehen, wie er reagiert hat?“ „Also für einen Baustadtrat reicht das doch allemal.“
„Siebels, ich kann Ihnen nicht mehr folgen.“ Er zog hastig an seiner Zigarette, der Aufnahmeleiter hatte nur drei Minuten Pause gegeben. „Sie casten doch für eine politische Magazinsendung, sehe ich das richtig?“ Er nickte. „Das ist nichts Besonderes, wie Sie wissen. Das bisschen Realität, das noch real ist, müssen Sie schon in den Nachrichten suchen, und selbst da kann es Ihnen noch passieren, dass die Amerikaner Ihnen manipulierte Bilder zeigen, die nichts mit der Wahrheit zu tun haben.“ „Aber dass Sie Ihre abseitigen Gestalten nun direkt von der Straße holen – Siebels, denken Sie an Ihr Niveau! Immerhin entwickeln Sie das Format für das Staatsfernsehen.“ „Die Konkurrenz kann sich natürlich mehr leisten“, grummelte er. „Die drehen viel authentischer als wir.“ „Verstehe“, antwortete ich, „die zeigen echte Sozialfälle?“ „Nein“, gab er zurück, „die engagieren echte Schauspieler.“
Kassebier war zwischendurch in die Kantine gegangen. Siebels verhandelte mit dem Assistenten, ob es nicht eine geeignete Besetzung für den Inhaber einer Zeitarbeitsfirma gäbe, der nebenbei als Sozialdezernent für die lückenlose Kontrolle von Arbeitslosen sorgte. Ich war empört. „Das nimmt ja langsam groteske Formen an“, schimpfte ich, „Das nenne ich unmoralisch!“ „Unmoralisch wäre es erst, wenn man einem Arbeitslosen nach einem fingierten Praktikum einen Job verschaffte, den es gar nicht gibt“, gab er ungerührt zurück. „Oder wenn man jemandem, der unter einer chronischen Krankheit leidet, Heilung verspräche, die es nach medizinischem Ermessen gar nicht mehr geben kann. Das nenne ich unmoralisch.“
Möglicherweise war ich nur so entrüstet, weil ich Siebels selten so kaltschnäuzig erlebt hatte. Der saß nun wieder in seinem Regiestuhl, nippte am Kaffee und musterte die Karriereblondine, die sich unsicher vor ihm aufbaute. „Mein Name ist Lohse, ich…“ „Sehr schön“, unterbrach er sie. „Sehr, sehr schön. Könnten Sie sich vorstellen, für einen hinteren CDU-Listenplatz kandidiert zu haben?“
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