„Zunächst hämorrhagisches Fieber, Blutungen, dadurch Schock und Kreislaufzusammenbruch, Krämpfe und Übelkeit, Erbrechen, Lähmungen, die Organe versagen nach und nach – kurz und gut, es endet tödlich.“ Mahlwenzel klappte das Heft zu und rückte seine Brille zurecht. Lächelnd zeigte er auf das kleine, fadenförmige Stückchen Virus auf dem Bild halb links. So also sah heute der Tod aus. Ein Stückchen Ribonukleinsäure, im Labor gezüchtet.
„Pocken und Pest sind recht wirksam, weil sie eine hohe Sterblichkeitsrate aufweisen – kleine Ursache, große Wirkung. Wenn Sie nur einen überschaubaren Ausbruch wollen, dann greifen Sie am besten zur Brucellose.“ „Sie meinen“, fragte ich irritiert, „wenn man nur einen Teil der Menschen umbringen will? Wozu das denn? Ich dachte, im Krieg sei Schlagkraft alles?“ Mahlwenzel schüttelte bedächtig den Kopf. „Nicht immer. Wenn Sie zum Beispiel in ein Land hinterher noch einmarschieren wollen, ist eine Zerstörung mit unausrottbaren Keimen nicht unbedingt das Mittel der Wahl. Sie bombardieren ja auch keine Kernkraftwerke in Ihrer Nachbarschaft.“ Das allerdings leuchtete mir ein. Mahlwenzel zeigte auf einige Bakterien, die wie längliche Reiskörner aneinanderklebten. „Das sind Tuberkeln, die gehören zur dritten Gruppe. Nicht unbedingt ein Ausbund der Hölle, verhältnismäßig einfach zu diagnostizieren, jedoch für den Hausgebrauch schon ganz gut einsetzbar.“ „Für den Hausgebrauch?“ „Nicht jeder Staat“, erklärte der Biologe, „kann sich ein luxuriöses Labor leisten, in dem die besten Aflatoxine hergestellt werden. Auch die Dritte Welt möchte ein wenig Terrorismus betreiben, wir sollten die Wettbewerbsschranken nicht unnötig hoch ansetzen.“
Die Bilder an der Wand zeigten Vergrößerungen unter dem Rasterelektronenmikroskop, bizarre, schwammige Punkte, zu langen Ketten verwoben, Häkchen und Spaghetti. „Nicht jede dieser Lebensformen ist gleich gut geeignet“, dozierte der Wissenschaftler. „Es ist wie mit Sprengstoffen: wo Sie mit Schwarzpulver nichts ausrichten können, greifen Sie eben zu TNT.“ „Es ist erschreckend“, sagte ich beklommen angesichts der Bilder. „Sie haben kaum noch die Kontrolle über das, was Sie hier innerhalb des Labors entwickeln – was aber geschieht, wenn eines Ihrer Viren ausbricht? Wie gehen Sie damit um, dass diese Keime das Leben auf dem ganzen Planeten bedrohen?“
Mahlwenzel fingerte wieder an seiner Brille. „Sie haben falsche Vorstellungen. Das ist nicht die Wirklichkeit.“ Er hob die Hand und führte sie an den Bildern entlang, wo sie alle versammelt waren, Ebola und Lassa, Marburg, Milzbrand und Malaria. „Sie sehen zu viele schlechte Filme. Grusel, Action, Katastrophen. Moderne Kampfstoffe sollen effektiv sein, am besten wirken sie wie ein Kontaktgift, das sich aus dem Flugzeug aufsprühen lässt – haben Sie das nicht im Gedächtnis aus dem Hollywood-Kram, den Sie gesehen haben?“ Er fletschte die Zähne. „Natürlich haben Sie das im Gedächtnis behalten. Man überfliegt unauffällig das Regierungsviertel mit dem Kampfhubschrauber und sprüht ein Gas aus fünfhundert Metern Höhe in die Luft, worauf innerhalb weniger Minuten sich einige Tausend Menschen in Agonie auf dem Pflaster wälzen, richtig?“ Ich kam gar nicht dazu, ihn zu unterbrechen; Mahlwenzel hatte sich in Rage geredet. „Haben Sie sich schon einmal gefragt, was mit denen passiert, die dieses Zeug ausbringen? Sind die vor Infektionen gefeit?“ Ich murmelte etwas von Schutzanzügen und Atemmasken, aber er wischte es mit einer Handbewegung fort. „Mit Schutzanzügen? Ja, das möchte ich sehen.“ Er lachte meckernd. „Ein Dutzend Männerchen in Fensterputzerkleidern marschiert unbehelligt ins Kanzleramt, streift sich in einem unbeobachteten Moment Astronautenkleidung über, sprüht Salmonellen auf alle Türklinken und verschwindet wieder. Und das möglichst noch eine Woche lang täglich, damit auch nichts schiefgeht.“
Ich war gekränkt, hatte ich mich doch sorgfältig vorbereitet und mein komplettes Wissen über Krankheitskeime aufgefrischt. „Lassen Sie den Kopf nicht hängen“, tröstete mich Mahlwenzel, „Sie denken eben noch nicht wie ein Terrorist, höchstens wie ein geistig etwas verwirrter Innenpolitiker im Wahlkampf. Gehen Sie logisch an die Sache heran. Glauben Sie, dass diese EHEC-Epidemie ein terroristischer Anschlag ist?“ Ich kratzte mich am Kopf. „Ich kann es mir nicht vorstellen – es gibt noch kein Bekennerschreiben.“ Wieder lachte Mahlwenzel. „Sehen Sie? Was täten Sie, wenn die Berliner S-Bahn zusammenbräche? Sie würden auf alles kommen, nur nicht auf einen Terroranschlag. Weil ein Angriff, der nicht als solcher erkannt wird, überhaupt kein terroristisches Potenzial besitzt.“
Er ging zu einem kleinen Kühlschrank und entnahm ihm ein Glasröhrchen mit blassgelber Flüssigkeit. „Wollen Sie mal riechen?“ Instinktiv schlug ich die Hände vors Gesicht und hielt den Atem an. Doch Mahlwenzel blickte nur belustigt. „Sie glauben, ich würde einfach so Bazillen in die Luft pusten? Lebensmittelfarbe, mehr nicht. Und es reicht.“ „Wozu?“ „Für die Boulevardpresse“, gab er trocken zurück, „und nicht einmal das wäre im Ernstfall notwendig. Wir arbeiten inzwischen so gut wie keimfrei. Solange andere denken, dass wir über etwas verfügen, was sich als Horrortodeskeim in die Schlagzeilen pumpen lässt, geht die Sache auf.“ „Es ist also wie im Kalten Krieg“, bemerkte ich. Mahlwenzel nickte. „Richtig. Der Anschlag ist höchstens noch zweitrangig, wichtig ist allein, dass er nicht mehr auszuschließen ist, auch wenn sich für ihn keinerlei rationaler Beweis mehr erbringen lässt. Wir könnten jetzt auch eine Terrorzelle in der feindlichen Hauptstadt mit Spritzpistolen ausrüsten, aus denen gelb gefärbtes Wasser käme – keine Gefahr für die Täter, aber maximale Hysterie, weil die Regierung gar nicht wüsste wogegen sie sich verteidigen sollte. Sie würden nicht mehr tun können, als sämtliche Bürgerrechte einzuschränken. Damit hätten wir auch schon gewonnen.“ Er sah mich tief befriedigt an. „Schön, dass man Terror mit seinen eigenen Mitteln bekämpfen kann, nicht wahr?“
kann nur applaudieren und mich begeistern..RESPEKT .. 😉
Merci 🙂
Sind es nur Viren und Bakterien, mit denen man terrorisieren kann? Oder reichen nicht schon kleine Meldungen über den steigenden Ölpreis oder den Verfall des Wechselkurses aus? Ein paar Spritzer Wirtschaftskrise hinzu und schon köchelt die Suppe in jene Richtungen, die man sich wünscht. Flucht in Gold, wenn man selbst gerade gewinnbringend verkaufen will? Kein Problem, der Dollar bricht sowieso bald zusammen. Strahlenschutzanzüge für den Hausgebrauch? Oh, der Wind in Fukushima hat gedreht.
Heutzutage ist alles ein Geschäft. Auch der Terrorismus.
Natürlich – Fundamentalisten geht es auch nicht um die Reinheit von $RELIGION, und wann hätten Diktatoren je das Wohl ihrer Herrenrasse höher eingeschätzt als den Zucker im eigenen Rektum? Es gibt überhaupt nur zwei Kategorien, Macht und Besitz. Die einzige Frage, die sich noch zu diskutieren lohnt, ist die, welches von beiden das andere bedingt. Oder ob nicht beides eigentlich mit dem anderen längst quantenmechanisch untrennbar zusammengefallen ist.