Nachhaltiger Fortschritt

23 06 2011

„Siebenundzwanzig Zentimeter.“ Tief befriedigt rollte Füssli das Maßband ein und legte den Apfel zu den anderen. „Wenn Sie bitte Ihre Schuhgröße auch in die Liste 23-2/B6 eintragen wollen? Wir rechnen den Durchschnitt im langjährigen Mittel aus. Und aus der Dispersion zwischen der Anzahl der Schafe pro Landkreis und dem Alter von Kleinbussen errechnen wir dann den neuen Index für die Gewichtung der Abweichung von den Wochentagen.“ Ich füllte die Spalte aus. Er nickte mir freundlich zu. „Sie haben der wirtschaftlichen Entwicklung der Europäer soeben einen großen Dienst erwiesen.“

Schlotterberg und Pustenhube schleppten schon den dritten Waschkorb mit Endlospapier in den Saal. „Das zählen die Hilfskräfte zusammen: Wir brauchen den Durschnittswert der Einwohner in den Ein-Personen-Haushalten.“ „Lassen Sie mich raten: eine Person?“ Füssli runzelte die Stirn. „Sie machen sich über mich lustig“, tadelte er, „dazu besteht auch nicht der geringste Anlass! Es gibt keinen Grund, sich über Statistik zu belustigen!“ „Nichts läge mir ferner“, beschwichtigte ich den Forscher. „Schließlich sind Sie eine international anerkannte Größe auf diesem Gebiet – wie sonst sollte die EU Sie beauftragt haben?“ „Allerdings“, gab er zurück, noch halb gekränkt, halb schon geschmeichelt. „Allerdings. Wir brauchen dringend eine neue Kennziffer, um die Entwicklung beurteilen zu können. Das Bruttoinlandsprodukt ist gar nicht geeignet – helfen Sie mir mal mit den Kronkorken, die müssen dringend gewogen werden.“

Unermüdlich trafen neue Protokolle in Füsslis Büro ein. Assistenten wogen Ziegelsteine, maßen die Kantenlänge von Straßenbahnfahrscheinen und bestimmten den Traubenzuckergehalt in Hamsterhaaren. „Man sollte nichts außer acht lassen“, mahnte der Statistiker. „Nur eine möglichst genaue Aufzeichnung kann uns helfen. Wobei es ja gar nicht mehr schlimmer werden kann – bisher haben wir die Sache in die Hand von Politikern gelegt. Mit jeder Konsequenz, die sich denken konnten.“ Ich nickte. „Als ob es auf die Vermehrung von Reichtum überhaupt ankäme – die bisherige Methode ist nicht besonders durchdacht.“ Füssli lächelte überlegen. „Wer hat Ihnen denn das eingeredet?“ „Ist das Bruttoinlandsprodukt nicht der Indikator, der den Wohlstand widerspiegelt?“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Durchaus nicht. Die Sache misst das Einkommen, nicht das Vermögen. Stellen Sie sich ein Land von Lottomillionären vor, die nicht mehr arbeiten, sondern vom Ersparten leben. Die Kennziffer wäre im Orkus, und die europäischen Bürokraten würden die Nation als Armenhaus behandeln.“ „Das gäbe Subventionen für Millionäre“, merkte ich an, „also so ungewöhnlich nicht.“

„Chef, die Unfallentwicklung?“ Pustenhube hatte einen Stapel Aktenordner unter dem Kinn klemmen. „Legen Sie es da zu den Grundstücks- und Kinderwagenpreisen.“ Füssli räumte eine Etage in der Regalreihe frei. „Das müsste man auch direkt miteinander vergleichen, verstehen Sie? Ich meine, wer sich schon ein Grundstück leisten kann, hat der nicht erst recht Geld für einen Kinderwagen? Oder haben die Leute schon gar kein Geld mehr für Grundstücke, weil die Kinderwagen inzwischen so teuer sind?“ „Wir wissen nicht einmal, ob wir gut leben?“ „Woher denn bitte?“ Füssli schlug die Faust in seine offene Hand. „Nehmen Sie die Lottogewinner, das Paradies, ein Land, in dem es ständig so warm ist, dass es weder Heizungsbauer noch Brennstoffhändler gäbe – das fiele aus der Statistik raus. Und nehmen Sie eine Gesellschaft, in der sich die Leute gegenseitig den Schädel einschlagen. Die Hälfte des Inlandsprodukts gingen drauf für Polizei und Gefängnisse. Jetzt noch eine ständige Gefahr durch Tsunamis, Vulkane und Erdbeben, und die Wirtschaft erlebt einen wahren Höhenrausch, während die Schäden übrigens nicht abgezogen werden.“

Schlotterberg pinnte sorgfältig die Kurven zur Investition in den sozialen Zusammenhalt an die Leiste. „Man kann ja gar nichts erkennen“, moserte Füssli. „Es liegt an den kleinen Zahlen“, verteidigte sich die Hilfskraft. „Dabei sind diese Bilder so wichtig für die Entwicklung eines Nachhaltigkeits- und Ökologieindex.“ „Sie messen also den sozialen Fortschritt“, mutmaßte ich. „Wir brauchen diese Messgröße, um einen Index auszurechnen, an dem sich der tatsächliche Zustand der Länder ablesen lässt.“ „Deshalb auch die vielen komplizierten Werte“, ahnte ich. Füssli winkte ab. „Die Beamten wollen nur beschäftigt sein, sonst nichts. Und eine Kennziffer, in der sich der europäische Durchschnitt der Nasenlänge mit dem Mittelmaß der täglichen Benutzungsdauer von Rasierapparaten verrechnen lässt, klingt so wunderbar offiziell, dass man an seine Aussagekraft glaubt. Weil man immer an alles geglaubt hat, auch wenn es da nichts zu glauben gab.“ „Sie meinen“, fragte ich, „dass diese Zahlen nichts mehr taugen?“ „Sie haben ausgedient. Es gibt nichts mehr, was sie uns sagen könnten, vor allem nicht darüber, wie gut und fortschrittlich wir leben. Dafür müssen wir eine neue Kennziffer einführen, aber ich fürchte, die Zeit ist noch nicht reif.“ Scheu blickte er um sich, dann griff er zu einem grauen Aktendeckel in der Ablage. Er schlug die Pappe auf; ein einzelnes Blatt lag darin. Eine rote Linie verlief auf der Nulllinie. Ich beugte mich über die Kurve. „Anzahl der Länder“, las ich, „die ihre Regierungen zum Teufel gejagt haben.“