„Entschuldigung, könnten Sie mir mal die nächste Provokation verraten?“ „Die was?“ „Die nächste Provokation.“ „Verstehe ich nicht. Sie meinen die nächste Sau, die hier durchs Dorf getrieben wird?“ „Naja, nicht so ganz. Erinnern Sie sich noch an Sarrazin?“ „Der war eine?“ „Ja.“ „Wusste ich doch, der ist immer noch eine Sau.“ „Das auch. Aber vor allem eine Provokation.“
„Sie meinen also, Sarrazins Äußerungen waren nur als Provokation der Öffentlichkeit gedacht?“ „Durchaus. Man braucht den Konsens ja nur zu sehen, der sich ihm andiente.“ „Wo sahen Sie da einen Konsens?“ „In der Annahme, jede noch so dumme Lüge müsse gleich als Verteidigung der Meinungsfreiheit gefeiert werden.“ „Aber nehmen denn diese Tabubrecher überhaupt Meinungsfreiheit für sich in Anspruch?“ „Für sich selbst schon. Es ist nur keine. Sie brechen kein Tabu, sie erklären nur etwas zum Tabu, um es dann brechen zu können.“ „Und bauen sich damit eine Provokation auf.“ „Die die Öffentlichkeit als Reaktion auf ein Feindbild sieht: Ausländer, Muslime, die 68er, Linke, Arme.“
„Sind Arme ein Feindbild? Ich dachte, sie seien ein Teil unserer Gesellschaft.“ „Das sind Muslime auch.“ „Man definiert also eine Gruppe als andersartig, um sie danach aus der Gesellschaft auszuschließen?“ „Nicht aus der Gesellschaft ausschließen. Die Taliban sind auch als Feindbild anerkannt, aber nie Teil der Gesellschaft gewesen.“
„Wozu brauchen wir überhaupt Feindbilder?“ „Weil wir sonst keine hätten. Überlegen Sie mal: was für eine fürchterlich komplizierte Welt. Jeder müsste auf einmal selbst nachdenken, es gäbe gar keine billigen Erklärungen mehr.“ „Aber vielleicht wollen die Leute ja gar nicht mehr nachdenken?“ „Sie können es nicht mehr. Man hat es ihnen längst abgewöhnt. Sie sind nicht mehr in der Lage dazu. Sie sind darauf angewiesen, dass die Vordenker es ihnen abnehmen und vorgekaute Gedanken vor ihnen ausspucken.“ „Sie, das klingt widerlich!“ „Das ist auch widerlich. Aber wir sehen es ja gerade so trefflich an den Griechen: keiner begreift, worum es eigentlich geht, die meisten wissen nicht einmal, wie eine Rating-Agentur funktioniert und was eine Staatsquote ist. Es reicht, wenn man öffentlich betont, dass die Griechen nur unser Geld wollen.“ „Und was macht man mit diesem Feindbild? Was soll es in Wirklichkeit verbergen?“ „Dass wir den Griechen Geld geben wollen, damit sie unsere deutschen Banken bezahlen können.“
„Es müssten nach Ihrer Definition jetzt gerade wieder die Armen sein. Man hat herausgefunden, dass zehntausend Hartz-IV-Empfänger mehr unter dem Verdacht der Schwarzarbeit standen.“ „Man hätte auch herausfinden können, dass es sich um 1,2% Verdächtige handelte, von denen 0,4% die Staatsanwaltschaft interessierten, von denen die meisten freigesprochen wurden. Ein einziger Steuerhinterzieher richtet mehr Schaden an als drei Dutzend Sozialhilfebetrüger.“ „Dennoch bleibt es eine Provokation. Warum?“ „Weil die meisten Menschen hinters Licht geführt werden wollen. Sie haben das Bedürfnis, an diese Provokationen zu glauben.“ „Ohne schlechtes Gewissen?“ „Ohne schlechtes Gewissen.“ „Und die politische Klasse?“ „Weiß es. Und liefert.“
„Leidet denn diese Bevölkerung nicht längst an Realitätsverweigerung?“ „In der Hinsicht sind sie der politischen Klasse schon recht ähnlich. Sie sind Partner in demselben Spiel.“ „Weil man einander die Provokation glauben muss?“ „Sie würde nicht funktionieren, wenn man sich über den Hintergrund informieren würde. Dass Hartz-IV-Aufstocker den ganzen Tag arbeiten, dass Molekulargenetik etwas komplexer ist als die Laienvorstellungen eines Sarrazin, dass die Griechen weniger Urlaub machen als die Deutschen und auch nicht mit 60 in Rente gehen.“ „Dann sollte eine Gefahr auch nicht als solche wahrgenommen werden, wenn man um ihre wahren Hintergründe weiß.“ „Eben deshalb werden Taliban, Ausländer und Arme auch zur Gefahr für die Gesellschaft erklärt.“ „Die provozierte Gesellschaft wehrt sich also gegen ihre Feinde.“ „Genauer: gegen ihr Feindbild.“
„Aber wer ist in Wirklichkeit der Feind?“ „Denken Sie selbst nach. Sie kennen jetzt ja die Hintergründe.“ „Der Provokateur.“ „Und die politische Klasse, in deren Auftrag der Provokateur arbeitet.“ „Woran machen Sie das fest?“ „Haben wir die neoliberalen Arbeitsmarktgesetze und die Finanzkrise den Arbeitslosen zu verdanken? Kam der Abbau der Grundrechte und die Überwachung mit den muslimischen Einwanderern? Ist die Umweltzerstörung eine Folge von Erdbeben und Klimawandel?“ „Der Bürger braucht also ein Feindbild, um sich zu engagieren. Ich frage mich, warum man das Durchwinken neuer Terrorgesetze und die Erhöhung der Abgeordnetendiäten mit einer so untauglichen Inszenierung verbergen muss.“ „Tja, Deutschland ist eben noch lange nicht in der Gleichstellung angekommen.“ „Was hat das damit zu tun? Wieder so eine neue Provokation?“ „Nein, aber die Leute lassen sich von Frauenfußball einfach nicht genug ablenken.“
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