Gernulf Olzheimer kommentiert (CXI): Märtyrer

1 07 2011
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

So hat alles einmal angefangen. Der Dummbatz mit der ewig demolierten Nase marmelte sich die Schädeldecke an der niedrigsten Stelle der Höhle ein und lebte seinen Narzissmus fortan ungehindert aus. Eine mit bloßem Auge immerhin sichtbare Schramme sowie minimaler Behaarungsmisswuchs werden jedem nachdrücklich gezeigt, der nolens volens das Kopfaua zur Kenntnis nehmen muss. Andere folgen; sie dulden deutlich sichtbar die Fehlfunktion ihrer Ohren, sind gestraft mit einem nicht sauber tickenden Kind, das nächtens die Nachbarschaft aufmischt, oder ertragen die reine Trostlosigkeit des Daseins in einem Kaff mit sieben Bäumen und einem Wasserloch, ohne je bis zum Horizont gelangt zu sein. Sie tragen ihr Bündel, treu und traurig, noch öfter aber kippen sie’s anderen mit Schmackes auf die Füße. Geboren ist der Märtyrer und sein Syndrom.

Unbegrenzte Leidensfähigkeit ist die einzige Schlüsselqualifikation des wahren Märtyrers. Ist der Märtyrer mit den Übeln des Daseins konfrontiert, Schwiegerelternbesuch, Gang zur Mülltonne oder nur die kleine Bitte, während eines Supermarkt- oder Fußballplatzbesuchs kurz die Klappe oder eine Tragetasche zu halten, der Passionsbeauftragte tut’s und stöhnt seine Klage leise – für Wehgeschrei im Fortissimo reicht der Atem des Geschundenen nicht mehr – heraus, dass man mit offenem Maul lausche. „Ach“, ächzt er, „nichts, nichts – seid nur glücklich, Ihr Kinder der Sonne, die Ihr mich ignoriert, es ist schon gut so.“ Und wahrscheinlich handelt es sich nur darum, den Wagen ganz kurz aus dem absoluten Halteverbot zu entfernen, wo der Vollhonk schon den ganzen Tag gearbeitet hat und nun tut, als müsse er die Meute geradezu anbetteln, ihn im Polarsturm zurückzulassen, damit die Mission ihr Ziel erreicht. Schlimmstenfalls hält er sich für den Weltretter, auf den alle warten, seitdem der Messias seine Anwesenheit verschoben hat. Im Zweifel lebt er fürs Kind, das sichert die Sympathien der Mitwelt, gleichwohl das Verständnis bei den Verständigen weiterhin fehlt.

Nichts scheut der Bekloppte, um sich zwanghaft in die Opferrolle zu pfriemeln. Für anständigen Masochismus hat die subfontanelle Verschaltung nicht gereicht, zum Ritzen, Koksen oder Saufen fehlt ihm der Mut. Dekorativ in die wehrlose Umwelt gekotzte Bekümmernis ist das Fluidum, das den Bescheuerten umgibt, wie ein inverses Superheldenkostüm aus Leichentüchern. Was hat der Dulder nicht schon alles getan für die Allgemeinheit, tapfer und doch verachtet, denn der Märtyrer wird übervorteilt, herabgesetzt, beleidigt und erniedrigt. Dass er es provoziert, ja ohne Demütigung nicht lange überleben würde, steht auf einem anderen Blatt.

(Unbestätigten Gerüchten folgend besteht das Märtyrersyndrom demselben Impuls, der bei stark regredierten Neokonservativen einen Genotyp des Gutmenschen postuliert. Im fortgeschrittenen Stadium wird das Böse in Menschengestalt bejaht, danach sieht das kollektiv Doofe der befragten Zielgruppe vergleichsweise ähnlich.)

Das Dumme daran ist, dass der Märtyrer sich nicht helfen, nicht unterstützen, nicht einmal so bemitleiden lässt, wie er es für sich eigentlich in Anspruch nähme. Klagt der Blutzeuge über die entsetzliche Ausbeutung – zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres verlangen die Nachbarn die Anwesenheit bei einer Geburtstagsfeier, verbunden mit dem Erwerb eines Blumenstraußes, gekoppelt an die Zumutung, einen Abend lang wach und ansprechbar zu bleiben, und dies nicht im Frotteefrack auf der Couch – so wird er kaum zu befriedigen sein, erließe man ihm seine Fron. Nimmt man ihm auch nur verdachtsweise die Arbeit ab, entlastet man ihn der unsäglichen Mühe, die öffentliche Ordnung bekäme empfindliche Haarrisse. Perfektionisten, denen die Kontrolle der Siedetemperatur des täglichen Fußbades mit erhitztem Öl nicht mehr ausreicht, gehen bei Märtyrern in die Lehre.

Verbissen krallt sich der Berufsirre in seine Daumenschrauben, die ihm seine Bezugsperson mit Verve in die Nägel dreht. Kein Junkie könnte seine Blutsverwandtschaft derart in die Mangel nehmen, kein C2-Verbraucher eine solche Co-Abhängigkeit hochschwiemeln. Der Märtyrer vertraut aus gutem Grund auf die unverbrüchliche Verbindung aus Pech und Schwefel. Vampirgleich saugt er ihm entgegengebrachte Energien aus, kappt alle Verbindungen an den gesunden Menschenverstand, und sei es, um nicht in die Steigerung des Elends abzukippen: die zwanghafte Wiedergutmachung eines faktisch nie geschehenen Unrechts, das sich der Paranoiker frisch aus der Rübe rattert, um die unsinnige Existenz irgendwie zu rechtfertigen. Es gibt keinen hinreichenden Toleranzgrund für derlei Hirnplüsch, aber das ist eine Frage der bürgerlichen Erziehung. Das Ende ist zu erwarten, trifft der Märtyrer auf ein Helfersyndrom. Hier der, der ohne künstlich aufgepumpte Barmherzigkeit erstickt, dort einer, der den aufrechten Gang nur beherrscht, wenn er darniederliegt und noch nach Kräften getreten wird. Eine Atombombe ist nichts dagegen.