Hildegard setzte entnervt die Kaffeetasse auf den Frühstückstisch zurück. „Ich kann es nicht mehr hören“, zischte sie und schlug heftig das Fenster zu. „Du wirst diesen verdammten Knödelbarden zum Schweigen bringen, oder…“ „Oder was?“ Müde legte ich das Gesicht in die Hände. „Er wohnt nicht in diesem Haus, er wohnt nicht einmal in dieser Straße. Und er hält sich an die vorgeschriebenen Zeiten. Was willst Du da machen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete sie dumpf. „Noch eine Arie, und ich erwürge diesen Troubadour! Höchstpersönlich!“ Erschöpft blickte ich sie an. „Vielleicht solltest Du ihn lieber auf offener Szene erdolchen. Mit einem Butterfly-Messer.“
Es konnte sich nur um den Tenor handeln, der in dieser Saison sein Gastspiel als Benjamin Franklin Pinkerton gab. Jedenfalls jodelte es pünktlich um acht Uhr durch die hinterwärts gelegenen Gärten; wenn auch nicht herauszufinden war, in welchem der Häuser der im Stadttheater engagierte Leutnant zur See vor Anker gegangen war, zum Frühstück ließ er Puccinis mitreißende Melodien erklingen. Hildegard ballte die Fäuste. „Ich werde mich heute Nacht persönlich auf die Lauer legen und diesem Schmalzlappen das Licht ausblasen!“ Ich winkte ab. „Gegen sechs hört er auf“, erinnerte ich sie, „bei Einbruch der Dunkelheit ist es längst zu spät.“ „Ich kann aber nicht jeden verdammten Tag wieder mit anhören, wie diese Heulboje meine Trommelfelle zermartert. Mach etwas dagegen!“
Ein paar Tage himmlischer Ruhe waren uns gegönnt – ich wagte sogar schon, leise Scarlatti-Sonaten beim Gemüseschneiden zu hören – als der Jammersänger sein Organ wieder ertönen ließ. „Amore o grillo, dir non saprei“, johlte es durch die Höfe. „Man könnte“, überlegte Hildegard, „sich als Grünflächenbeauftragter in die Hintergärten schleichen und so diese Radautüte lokalisieren.“ Ich lehnte entschieden ab; Hildegard war verstimmt. „Keiner hat davon gesprochen, dass Du das machen sollst. Außerdem passe ich gar nicht in einen Blaumann.“ „Und was haben wir davon?“ Sie sah mich erwartungsvoll an. „Gar nichts. Wir wissen, wo er singt, werden ihn aber nicht daran hindern können.“ Hildegard seufzte. „Wenn uns nur jemand helfen könnte.“
„Er ist eher Schmalzheini als großer Akrobat“, befand Doktor Klengel, der Hildegard beruhigend die Hand tätschelte. „Geben Sie ihr zehn Tropfen davon vor den Mahlzeiten, dann legen sich die Nervenbeschwerden bald wieder. Und schließen Sie die Fenster.“ „Klengel“, fragte ich, „Sie sind doch Opernfreund.“ „Wie ich im Karnevalsverein bin“, kicherte der Arzt. „In jungen Jahren einmal am Stadttheater ein Abonnement unterschrieben, nun vergesse ich jede Spielzeit, es zu kündigen. Und wenn man sowieso dafür bezahlt, kann man ja auch gleich in die Oper gehen, nicht wahr?“ „Geben Sie es zu, Ihre Plattensammlung ist nicht schlecht.“ Geschmeichelt nickte er. „Da haben Sie Recht. Ich habe da so einiges gesammelt, auch Puccini – freilich besser als das hier. Eine entzückende Aufnahme könnte ich Ihnen empfehlen, mit Giuseppe Strillo als Pinkerton, und den Sharpless singt…“ „Großartig“, willigte ich ein. „Morgen um acht, bringen Sie Ihre Butterfly mit.“
„Was hast Du vor?“ Hildegard lag apathisch auf dem Sofa. Da klingelte es an der Tür. „Es ist doch noch gar nicht acht.“ „Ich weiß“, antwortete ich knapp und öffnete die Tür. Kester war pünktlich; er machte es sich mit seiner Teetasse am Küchentisch gemütlich und stöpselte viele Kabel in seinen Klapprechner. „Das hier dürfte das Richtige sein“, teilte er mir mit und zeigte auf eine Ansammlung von Schallwellen auf dem Computerdisplay. „Du kriegst das schon hin“, bestärkte ich meinen Großneffen. „Als angehender Physiker weißt Du ja, am besten, worauf es ankommt.“
Inzwischen hatte sich auch Doktor Klengel eingefunden die Opernaufnahme mitgebracht. „Ich verstehe nicht ganz, was das sein soll.“ „Warten Sie einfach ab“, gab Kester zurück. „Als erstes werde ich das entsprechende Stück herausschneiden.“ Im Hinterhaus hatte unser Aushilfs-Caruso bereits die tägliche akustische Folterübung aufgenommen und kletterte auf Puccinis Arie herum wie ein Insekt auf einem Blumenstrauß. „Che di rincorrerla“, jodelte es durch die Gärten, „furo-o-or m’assale…“ „Sehr gut.“ Tief befriedigt justierte Kester einige Regler und erläuterte sein Vorgehen. „Du wolltest eine Art eingefrorenen Ton, Onkelchen?“ Ich nickte. „Das machen wir so: hier auf der Stelle, wo der Sänger ohnehin sehr stark dehnt, schneiden wir ein kleines Stück Schallwelle aus und spielen es dreimal, zehnmal, hundertmal nacheinander ab, als Schleife, auf der der Ton stehen bleibt.“ „Faszinierend“, murmelte Klengel. Hildegard begriff. „Und Ihr nehmt die Stelle mit dem hohen C?“ „Genau gesagt, ein B“, nickte Kester. Klengel gluckste. „Was ein richtiger Tenor ist, der wird sich so einen Hahnenkampf nicht entgehen lassen.“ „Das Orchester können wir ein bisschen abdämpfen, auf die Entfernung wird man sowieso nur den großen Giuseppe Strillo hören – Onkelchen, Du kannst jetzt die Fenster öffnen.“
In majestätischer Strahlkraft erklomm der große italienische Tenor das hohe B – „furo-o-or m’assale“ – und hielt sich zwölf Sekunden lang souverän auf dem Spitzenton, bevor er robust und intonationssicher die Phrase zu ihrem Ende führte. Hektisches Räuspern beantwortete die stimmliche Großtat; deutlich hörbar blähte der Gartensänger die Lungen, bevor er ansetzte – „furo-o-or m’assale“ – und mit knapper Mühe den Schluss erreichte. Zwei-, dreimal ließ der innerwärts verlängerte Strillo seine Meisterstimme ertönen. Klengel schwelgte in der Fülle des Wohllauts. „Welche Tessitura, welch ein schöner Ansatz! Ich bin begeistert! Los, geben Sie zwanzig Sekunden!“ Doch Hildegard winkte ab. „Aber nein, lieber erst einmal nur zehn bis zwölf.“ Sie lächelte diabolisch. „Wenn er das Gefühl bekommt, den Gegner noch einigermaßen einholen zu können, wird er sich über kurz oder lang selbst überschätzen.“ Beeindruckt nickte Klengel. Zehn Sekunden – „furo-o-or m’assale“. Fünfzehn Sekunden – „furo-o-or m’assale“. Heftiges Schnaufen begleitete das Raukehlchen, bevor er mit Giuseppe Strillos fünfundzwanzig Sekunden ausgehaltenem Hochton – „furo-o-o-o-o-or m’assale“ – konfrontiert war.
„… schon im ersten Akt durch Indisponiertheit auffiel, später dann mit heiserem Krächzen und wilder Gestik die männliche Hauptrolle schmiss. Puccinis von exotischem Lokalkolorit durchzogene Musik hätte ein stimmliches Harakiri wie dieses durchaus entbehren können. Der Gaststar suche sich einen neuen Beruf – am besten einen, der nicht viel mit Gesang zu tun hat.“ Mit einem Ruck schlug Hildegard die Zeitung zu. „Großartig. Weißt Du was? Wir sollten mal wieder in die Oper.“
Satzspiegel