Kernschmelze

14 07 2011

„Bitte nicht hier. Ja, da drüben. Da können Sie sich hinsetzen. Da liegen nur die Parteiprogramme und der ganze Ramsch. Wollen Sie eins? Nehmen Sie mit, stecken Sie’s ruhig ein, wird nicht mehr gebraucht. Natürlich wird das nicht mehr gebraucht, oder wollen Sie ernsthaft behaupten, Sie hätten je ein Parteiprogramm gelesen? Wer liest denn bitte Parteiprogramme? Politiker etwa?

Wir haben uns jetzt entschieden, das heißt: wir mussten uns entscheiden. Es ging nicht mehr mit diesem Bundestagsdings und den Parteien und dem ganzen Kram, verstehen Sie? Wir müssen das jetzt alles fusionieren. Ja, die Parteien. Ob das geht? Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls gesagt, das mit dem jetzigen Wahlrecht geht nicht. Also gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder macht man etwas Sinnvolles, indem man eine wirklich von Grund auf demokratische, den Bürgerrechten, der Verfassung und dem deutschen Staat verpflichtete Neuerung herbeiführt – oder diese, naja, was so aussieht wie eine handlungsfähige Bundesregierung.

Die Parteien fusionieren, ganz recht. Das wird natürlich auch die eine oder andere Veränderung im politischen Leben mit sich bringen, wirklich! Man muss jetzt nicht mehr monatelang den Kandidaten für den Bundespräsidenten auskungeln, man braucht keinen Kuhhandel mehr, um irgendwelche Grundrechte auszuhebeln, die Hartz-IV-Sätze zu senken oder den Mindestlohn zu verhindern. Sie, das wird eine wirklich ganz andere Stimmung am Markt… in der Politik, wollte ich sagen. In der Politik natürlich. Wie komme ich nur auf Markt?

Es macht doch keiner besser oder schlechter. Das ist doch alles nur Wahlkampf, in Wirklichkeit hackt eine Krähe der anderen kein Auge aus. Es ist doch letztlich egal, wo Sie Ihr Kreuz machen. Gut, das stimmt auch wieder, es ist inzwischen auch wurst, ob Sie’s überhaupt noch machen.

Keine Ahnung. Der Referentenentwurf hat ja CDUCSUSPDFDPGRÜNELINKE als Arbeitstitel, das wird sich vermutlich erst recht spät entscheiden. Wobei es dann ja auch egal ist, ob das nun kurz vor dem Wahlkampf oder schon nach der Bundestagswahl kommt. Im Ergebnis bleibt es sich nämlich gleich. Merkel hat schon einen Vorschlag gemacht. Ihr gefällt am besten Einheitspartei Deutschlands. Klingt ja auch ziemlich vertraut. Wenigstens für Merkel.

Sicher, das wird große Veränderungen nach sich ziehen. Die ganze Politik wird entspannter sein, leichter, eben effektiver und besser. Für jeden. Die Union muss sich bei ihren Koalitionsversuchen nicht mehr entscheiden, welche Hälfte der Wähler sie verprellt – die SPD darf als Juniorpartner der Grünen weiterhin den großen Max markieren – die von der FDP bekommen weiterhin Kohle, ohne arbeiten zu müssen – die Linken müssen nicht mehr zwanghaft so tun, als seien sie moralisch tragbar für die Fundamentalopposition – und die Grünen dürfen endlich zugeben, dass ihnen dieses ganze Umweltgedöns am Arsch vorbeigeht. Eine von Grund auf ehrliche Politik! Können Sie sich etwas Besseres vorstellen?

Das Verhältnis von Politik und Wirtschaft wird sich tatsächlich anders gestalten, da haben Sie mal Recht. Ja, ich denke auch, es wird hier einiges wieder gerade gerückt. Beispielsweise das Primat der Politik, das wird endlich wieder zu sehen sein. Die Politik kann jetzt die Höhe ihrer Spenden besser kontrollieren, schon deshalb, weil ja immer zentral an eine Partei gespendet wird. Kein Neid, keine vergessenen Briefumschläge mehr in Schreibtischschubladen von Lügnern, die hinterher Bundesfinanzminister werden, keine Chance für Spendenskandale. Also wegen der Gesetze, die kann die fusionierte Partei dann ja ändern, wie sie lustig ist. Und damit ist dann sowieso alles wieder legal. Finden Sie das nicht auch prima, dass wir auf die Art endlich eine der schlimmsten Grauzonen der Korruption in Deutschland endlich los sind?

Können Sie das mal aufschreiben? Das mit der Kernschmelze. Ich finde das irgendwie logisch. Ja, das können wir dann für die Werbekampagne nehmen – unter hohem Druck entsteht etwas sehr Energiereiches, das die Zukunft unseres Landes nachhaltig verändern wird. Ja, das gefällt mir wirklich ausnehmend gut. Die Kanzlerin wird begeistert sein.

Übrigens ist das mit der Fusionierung auch eine Angleichung an die realen Verhältnisse, verstehen Sie? Ja, es gab ein paar Probleme, wie immer – die SPD wollte natürlich eine schrittweise Angleichung in drei Stufen durchsetzen, aber sie konnten sich auf dem Sonderparteitag wieder nicht entscheiden, ob sie das einstimmig billigen oder lieber anlehnen sollen. Sie haben es dann abgelehnt, die Fraktion hat sogar einen Grund dafür gefunden, der nicht mit der Fraktion zusammenhing, und dann haben sie einen Deal mit der CDU/CSU gemacht, in dem sie es einstimmig durchgewunken haben. Angeblich unter großen Bedenken, weil sie nicht so genau wussten, worum es dabei eigentlich ging.

Worum es ging? Na, um die Angleichung an die Wirklichkeit. Wenn Unternehmen fusionieren, sind sie hinterher zusammen weniger wert als vorher. Bei Parteien ist das nicht anders – warten Sie mal ab, wer den Laden hinterher noch wählt. Sie etwa? Ach was – die Leute wählen doch schon seit Jahren nicht mehr nach Richtung, denen ist das längst egal. Ob da CDU oder LINKE draufsteht, es geht doch bloß um höhere Diäten, dann machen sie Krieg für die Wirtschaft, und die größten Deppen bekommen die höchsten Ämter. Brauchen wir dazu Wahlen? Und wenn sowieso alles alternativlos ist, wozu brauchen wir dann noch Parteien? Es reicht doch, wenn wir Deutsche sind. Das hat doch schon immer gereicht.“