Am Eingang musste ich mich des Bargelds völlig entledigen. „Zu Ihrer eigenen Sicherheit“, teilte die Pförtnerin mir mit, „Sie wissen ja, dass die Scheine einen Geruch haben, den auch Spürhunde riechen können. Deshalb verzichten wir auf Bargeld. Sonst würden unsere Patienten schnell wieder rückfällig.“
„Der Kapitalismus“, begrüßte Professor Mayrink mich, „ist bloß eine Verkettung von Denkfehlern. Wir haben unser Therapieprogramm auf einen möglichst effektiven Ausstieg aus diesem Denken ausgerichtet. Zwar unorthodox, auch ein wenig langwierig, aber der Erfolg gibt uns recht.“ Tief befriedigt führte er mich in den Vortragssaal, da die Adepten die Anfängerschulung hörten. „Sagen Sie mal“, stutzte ich, „ist das nicht –?“ „Ja“, bestätigte er mit einem Kopfnicken, „er ist es selbst. Wir haben einen Doppelgänger geschickt, der fällt nicht einmal im Kabinett auf. Aber wie sollte er auch. Eine Entziehungskur ist ja heutzutage im politischen Geschäft ein relativ normaler Grund für einen plötzlichen Urlaub.“
Die Patienten spielten mit Murmeln. „Schach war ihnen zu kompliziert“, ließ die Pflegerin mich wissen. Mayrink nickte. „Jeder wollte immer klüger sein als die anderen, auch wenn er gerade dreimal schachmatt gegangen war. Da haben wir uns das mit den Schussern ausgedacht.“ „Sie trainieren hier das Mannschaftsspiel“, mutmaßte ich, doch er lächelte und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht so wichtig. Es kommt darauf an, dass sie die Grenzen des Spiels begreifen. Sie wissen, worauf es hier ankommt?“ Ich blickte ihn verständnislos an. „Auf den Sieg natürlich. Jeder will der Beste sein, der zweite Sieger ist in ihrer Hierarchie bereits ein Versager. Das typische neoliberale Credo.“ Mayrink zog einen Schreibblock hervor. „Wenn wir sie zu dritt starten lassen, haben sie eine reelle Chance, aber ist das realistisch? Wir lassen sie zu zehnt antreten – auf einen Gewinner neun Verlierer. Dann steigern uns und lassen sie in einem globalisierten Wettbewerb antreten gegen hundert Konkurrenten.“ „Aber wird das nicht ihren Instinkt wecken und sie denken lassen, dass man den Zugang zum Wettbewerb beschränken muss?“ „Deshalb bleibt der ja auch in unserer Hand“, betonte Mayrink. „Und wenn Sie denken, es würde mit den üblichen Mitteln zugehen – Doping, Korruption, Erpressung, Parteibücher – deshalb sollen sie mit Murmeln spielen. Wie sollen sie da betrügen?“
Hier im Innenhof bauten die Insassen an einer Pyramide aus Holzkisten. Mayrink strich sich durch seinen Bart. „Beachten Sie bitte, dass die Patienten keinerlei Anreiz für ihr Tun haben. Wir haben oben keine Trauben aufgehängt für die Füchse – sie bauen diese Pyramide aus freien Stücken, einfach nur deshalb, weil nichts dagegen spricht.“ Ich kniff die Augen zusammen, denn die Sonne blendete mich; die eifrig Kisten stapelnden Männer schien das aber nicht zu beeinflussen, sie bauten Stück um Stück und kletterten auf schwankenden Planken herum. „Warum machen Sie das“, fragte ich, „haben Sie keine Sorge, dass Sie irgendwann vor einer Herde untätiger Patienten stehen, die nichts mehr ohne Belohnung tun wollen?“ „Es ist die intrinsische Motivation“, lächelte der Therapeut. „Sie und ich, wir würden beide eine Arbeit vollbringen aus reiner Freude am Tun, nicht wahr? Schämen Sie sich nicht, das ist nur natürlich. Es steckt in uns. Das ist durchaus gesund und sozial verträglich. Leider haben sie es nicht begriffen. Sie denken immer noch in Kategorien wie Leistung und Anreiz. Wir treiben es ihnen gerade aus.“ „Ich verstehe“, antwortete ich, „Sie lernen, dass der Anreiz nicht im Erreichen eines Ziels liegt, sondern in der Handlung selbst – das könnte die Arbeitsmarktpolitik revolutionieren.“ „Nicht gerade das“, wiegelte Mayrink ab. „Aber wir könnten doch diese ungesunden kapitalistischen Auswüchse ein wenig beschneiden.“
Ein dicker, kahlköpfiger Mann hatte sich verbissen fast zehn Meter in die Höhe gekämpft. „Schauen Sie ihn sich genau an“, schärfte er mir ein, „Sie werden erstaunt sein.“ Und da passierte es auch schon. Die Sperrholzkisten brachen unter ihrem eigenen Gewicht zusammen, der Dicke fiel mit einem Schrei in die Tiefe. Doch was war dies? Er traf mit einem satten Klatschen auf dem Boden auf , federte zurück und hopste in die Höhe wie eine Gummikugel. „Wir haben den Boden natürlich präpariert“, kicherte Mayrink. „Es ist eine dünne Lage Schaumstoff über einem Trampolin. Keine Gefahr, sich zu verletzen. Aber die verzweifelt Strebsamen lernen doch, dass sie sich anstrengen können, wie sie auch wollen – das Wachstum ist nichts als ein Popanz. Und ziemlich begrenzt.“
Es hupte, laut und durchdringend. Dazu blinkte eine rote Lampe, die Klappe öffnete sich und die Klappe spuckte ein paar bunte Bälle aus. „Der Zufallsgenerator bestimmt, wann sich die Klappe öffnet“, informierte Mayrink mich. „Bald auf der einen, bald auf der anderen Seite. Hier sind es bunte Bällchen, wie Sie sehen.“ Die beiden Patienten griffen gierig nach den Kugeln und stopften sie in die bereits übervollen Taschen ihrer Anstaltskittel. Schon hupte es wieder – Bälle prasselten, die Insassen rissen die Augen auf und griffen gierig nach den Bällen. Einer von ihnen, der Linke, zog missmutig die Brauen empor. „Er hat mehrfach nur zwei bunte Bällchen bekommen, sein Nachbar aber drei. Hier sehen Sie, wie die Grundregung in ihm aufkeimt, der sinnlose, törichte Neid.“ „Wozu dienen denn diese Bälle“, fragte ich. „Zu gar nichts“, antwortete Mayrink, „buchstäblich zu gar nichts. Man kann sie sammeln, aber sie haben keinen Tauschwert, denn es gibt nichts, was man dafür eintauschen könnte, und es gibt niemanden, der sie eintauschen wird. Und morgen wird es neue Bälle geben, in anderen Farben, in anderen Formen, in anderen Größen. Allerdings genauso wertlos.“ Ich schmunzelte. „Jetzt verstehe ich, warum ich an der Pforte das Geld abgeben musste.“
An der anderen Seite rutschte ein belegtes Brot aus dem Schacht. „Sie sehen, es hat seinen tieferen Sinn, nicht in den Bällchen, wohl aber in der Art ihrer Verteilung.“ Bällchen, Bällchen, dann ein Apfel, Bällchen, ein Stück Kuchen, Bällchen, Bällchen. „Sie werden nichts zu essen bekommen während dieser Phase“, sagte er. „Die Erkenntnis, dass Geld nicht satt macht, mag einigermaßen hart sein, und manche, nun: Sie brauchen gewisse Reserven, wenn sie es nicht begreifen wollen.“
Die Pförtnerin händigte mir die Geldbörse aus. „Und haben Sie in Zukunft ein bisschen Mitleid mit den Kapitalisten“, bat sie. „So ein freudloses Dasein, und die wenigsten sind glücklich damit.“
Satzspiegel