Nichts als Scherereien

4 08 2011

Breschke balancierte. „Da oben muss sie sein“, stieß er hervor und stellte sich auf die Zehenspitzen, „ich hatte die Astschere nämlich im Frühjahr noch in Betrieb – wenn man nicht alles sorgfältig weglegt, wird es einem doch nur geklaut.“ Ich hielt die Trittleiter mit beiden Händen fest. „Meinen Sie nicht, ich sollte auf der Stellage nachschauen?“ Er renkte sich aus, dass das Rohrgestell unter ihm zu schwanken begann. „Warum denn? Ich kenne mich im Keller nun mal besser aus als Sie, es ist ja mein Keller!“ „Dafür“, replizierte ich, „bin ich allerdings einen Kopf größer als Sie, und längere Arme habe ich auch.“ „Gut, gut, gut.“ Offenbar hatte der pensionierte Finanzbeamte ein Einsehen. „Dann schauen Sie halt, ob Sie die Schere finden.“

Mehr als eine herkömmliche Gartenschere aber fand ich nicht. „Wenn Sie nur den Buchsbaum ein bisschen beschneiden wollen, reicht die auch aus.“ Er rümpfte die Nase. „Das ist meine Hecke in meinem Garten, und ich werde sie mit meiner Astschere beschneiden.“ Ich schmunzelte; es war doch jedes Mal dasselbe, er war nur wieder zu stolz gewesen, mich um meine Astschere zu bitten, weil er sie unauffindbar im Keller verlegt hatte. Mit der Gartenkralle war es so gewesen, mit der Rosengabel und mit dem Pikierstab. Hätte seine Frau nicht die Gartenschere für ihre Schnittblumen in Verwendung und rückte sie das Gerät nicht nur auf Bitten aus der Küchenschublade heraus, Horst Breschke würde mindestens zweimal im Jahr eine neue anschaffen, die sich auf wundersame Art im Keller verlöre. „Früher“, sinnierte er, „da wohnte da drüben noch der alte Doktor Haberkamp. Feine Leute, wissen Sie, das gibt es ja heute gar nicht mehr. Da hat man sich noch ausgeholfen, mit dem Rasenmäher, mit Spaten und Sauzahn. Aber das ist lange vorbei.“ Grollend schüttelte er die Fäuste. „Heutzutage muss man seine Astschere am Boden festschrauben, damit diese Halunken sie nicht vom Fleck weg klauen. Ich werde ihn schon kriegen, diesen verfluchten Gabelstein.“

Fünfundzwanzig Jahre Nachbarschaft hatten das Ihrige getan, um die beiden Streithähne zu einer untrennbaren Einheit zusammenzuschweißen. Wie der eine um eine Handvoll verwehtes Herbstlaub und Magnolienblüten eine Privatklage anstrengte, so setzte der andere für sonntäglich auf der Leine flatternde Tischtücher eine ganze Polizeiwache in Bewegung. Versicherungsvertreter begutachteten die Folgen von Funkenflug auf der Ligusterhecke, Sachverständige verzweifelten beim Versuch, das Plätschern der Amseln in der Vogeltränke als gemeingefährlichen Lärm nachzuempfinden. Sie kannten einander nur zu genau, wussten alles vom Nachbarn, konnten ohne den anderen förmlich nicht mehr existieren und waren sich doch spinnefeind, so dass sie sich voller Bosheit verfolgten und piesackten, wo es nur möglich war. Hätte man sie gefragt, warum eigentlich, keiner hätte den Grund gewusst, und wäre ihnen das klar geworden, sie hätten auf ihre alten Tage noch die besten Freunde werden können.

„Ganz am Anfang habe ich Gabelstein wohl einmal etwas geliehen“, verkündete Breschke und nahm eine Stufe der Kellertreppe nach der anderen. „Eine Schere, einen Schraubenschlüssel oder so etwas. Aber glauben Sie nicht, dass ich das jemals wiederbekommen hätte!“ Felsenfest war er davon überzeugt, und noch immer konnte ich ihn nicht davon abbringen, das Immergrün zu beschneiden. „Ich komme hier kaum an“, quetschte er hervor und lehnte sich vornüber. „Dann werden Sie eben eine Hälfte von hier aus schneiden und die andere Hälfte von der Straßenseite“, riet ich ihm. Jeden Moment rechnete ich damit, die Astschere aus meinem Fundus holen zu müssen, doch er ließ sich Zeit. Zudem war er heute wohl besonders schlechter Laune. „Ich lasse mir doch nicht von einer Gartenschere vorschreiben, von wo aus ich die Hecke zu schneiden habe!“ Entrüstet stapfte er um den kleinen Busch herum und schnipselte hier, da und dort ein paar dürre Zweige ab. Ich versuchte, ihm das Werkzeug behutsam aus der Hand zu nehmen. „Lassen Sie es mich machen“, bot ich ihm an. „Schonen Sie Ihren Rücken, Herr Breschke, und lassen Sie mich das bisschen Grün schneiden.“

„Wir haben wohl nicht das richtige Gerät?“ Höhnisch lehnte Gabelstein über dem Gartenzaun. „Ignorieren Sie ihn“, zischte ich Breschke zu, „es gibt sonst nur Scherereien.“ Er kochte bereits vor Zorn. „Dieser Lump“, keuchte er, „ich werde ihm zeigen, was eine Harke…“ „Halt“, unterbrach ich den Hausherrn. „Ich hab’s: ich verschwinde schnell im Keller, gehe innen im Haus die Treppe hinauf, zur Vordertür hinaus, laufe nach Hause, und mit der Astschere denselben Weg zurück. Drei Minuten, wenn es hoch kommt. Topp?“ Breschke feixte. „Großartige Idee“, sagte er und schlug mir auf die Schulter, „ganz hervorragend! So machen wir das! Und wenn Sie herauskommen, bringen Sie dann auch gleich den Rechen mit?“

Wo aber befand sich der Rechen? Nicht in der Halterung an der Kellerwand, ebenso wenig neben der Schneeschaufel. Ich fand ihn in einer kleinen Abseite in einem niedrigeren Nebengelass, halb verdeckt, bei Straßenbesen, Grabstock, diversen Schaufeln sowie der Astschere. Gabelsteins Grinsen gefror, als ich mit dem Schneidinstrument die Treppe hochkam. „Danke bestens“, teilte ich dem Nachbarn in maliziöser Freundlichkeit mit, „wir wissen Ihr Angebot durchaus zu schätzen, aber für dieses Mal sind wir wunschlos glücklich.“ Er knirschte mit den Zähnen. Breschke nahm die Schere in Empfang. „In einem ordentlichen Haushalt kommt doch nichts weg“, jubelte er, „und Wiedersehen macht Freude!“ „Allerdings“, sagte ich und wies wortlos auf den Handgriff des mächtigen, geschmiedeten Stahls, da mit den Jahren nachgedunkelt, aber noch gut lesbar Ernst-Wilhelm Haberkamp eingraviert stand. Breschke blickte die Griffenden ungläubig an. „Sie haben ja so Recht“, lächelte ich, „heutzutage muss man seine Astschere am Boden festschrauben.“