Weiße Rosen aus Berlin

8 08 2011

„Flugblatt? Hier in aller Öffentlichkeit? Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank, junger Mann! Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Nicht zu fassen – einfach so, dass das alle lesen können! Sie wollen das wohl auch noch? Das kann ja wohl nicht wahr sein! Ich werde Sie melden müssen, das ist Ihnen doch hoffentlich klar?

Warum machen Sie das denn nicht wie jeder anständige Mensch, warum schreiben Sie kein Buch oder setzen sich in eine Talkshow oder halten eine Rede im Bundestag? Wollen Sie etwa, dass Ihnen jemand zuhört? Was meinen Sie, wenn Sie da jemand falsch versteht? Und Sie wollen das einfach so auslegen? In der Universitätsbibliothek? Etwa ungeprüft? Meine Güte, politisch motivierte Täter wie Sie finden heute vor allem in Druckwerken jede Menge radikalisierter, undifferenzierter Thesen, sie können sich dort von Seite zu Seite hangeln und bewegen sich nur noch in dieser geistigen Sauce! Das darf man doch nicht zulassen!

In unserem Land kann jeder, der die Meinungs- und Religionsfreiheit beachtet, offen diskutieren. Sie dürfen bloß nicht erwarten, dass ich Ihnen zuhöre. Ich meine, Sie dürfen das natürlich schon schreiben. Sie dürfen ja alles schreiben, nur nicht, dass es in Deutschland Zensur gäbe – ist ja klar, wenn es keine Zensur gibt, darf man eben nicht schreiben, es gäbe hier eine Zensur – nur Sie dürfen es eben nicht veröffentlichen. Nicht ohne Ihren Namen! Das kann man doch nicht machen, jetzt denken Sie doch mal an die Kinder! Na gut, geben Sie halt her, ich schaue mir das mal durch. Kann sicher nicht schaden, am Ende setzt sich mit Ihnen noch jemand geistig auseinander, und dabei ist das doch Ungeist, was Sie hier –

‚Viele, vielleicht die meisten Leser dieser Blätter sind sich darüber nicht klar, wie sie einen Widerstand ausüben sollen. Sie sehen keine Möglichkeit. Wir wollen versuchen, ihnen zu zeigen, dass ein jeder in der Lage ist, etwas beizutragen zum Sturz dieses Systems.‘ Ich bitte Sie, das geht doch nicht! politischer Widerstand, schön und gut, mir passt ja auch manches nicht – also mal ganz im Vertrauen, als ich in Ihrem Alter war, da hatte ich auch so meine Probleme mit dem Staat, zum Beispiel, dass man dem Führer überall die Ehrenbürgerwürde aberkannt hat, das ist doch ein Skandal! Das ist doch mit einem Rechtsstaat gar nicht zu vereinbaren! Ich meine, die jungen Leute, die wollen die Autobahnen benutzen, aber statt mal ein bisschen dankbar zu sein, dass der Führer die gebaut hat, nein, lieber alles gleich kaputt machen! Man kann ja ruhig politisch etwas machen, auch mal etwas verändern wollen, aber Sie müssen hier doch mit Ihrem Namen dazu stehen – jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie betreten da einfach so den Rasen, und dabei erschrickt sich eine alte Dame, und dann weiß die Versicherung nicht, wer ihr schadenersatzpflichtig ist! Wollen Sie eine solche Schuld auf sich laden?

Selbstverständlich haben wir Meinungsfreiheit. Sogar auf dem Papier. Und wenn Sie irgendeine Meinung haben, dürfen Sie die auch gerne denken, da sind wir ja liberal. Aber wenn Sie die irgendwo äußern wollen, dann müssen Sie doch als Person auftreten – als Mensch? da müssen Sie etwas verwechselt haben, junger Mann, das ist ein bedeutender Unterschied – als Bundesbürger, als ein Subjekt nämlich, das man erkennungsdienstlich behandeln und versehentlich bei der Vernehmung, aber das würde jetzt sicher zu weit führen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass unterhalb der öffentlichen Diskussion etwas schwelt, dass dort Menschen sind, die wir am Ende nicht mehr erreichen. Wenn ich beispielsweise Ihre Anschrift nicht hätte, wie soll ich da ein paar Beamte bei Ihnen vorbeischicken für eine Hausdurchsuchung?

‚Was aber tut das deutsche Volk? Es sieht nicht und es hört nicht. Blindlings folgt es seinen Verführern ins Verderben. Sieg um jeden Preis, haben sie auf ihre Fahne geschrieben.‘ Aber sicher doch – ist von Ihnen einen bisschen Einsatzwille schon zu viel verlangt? Dass sich Leistung wieder lohnt, wem haben Sie denn das zu verdanken? Das haben Sie doch nicht selbst erfunden! Ist es denn wirklich so weit gekommen, dass die Jugend überhaupt keinen Respekt mehr vor unseren Grundwerten hat, vor Rendite, Waffenindustrie und der Kirche? ‚Es ist eine alte Weisheit, die man Kindern immer wieder aufs Neue predigt, dass wer nicht hören will, fühlen muss. Ein kluges Kind wird sich aber die Finger nur einmal am heißen Ofen verbrennen.‘ Sie schreiben es doch selbst, warum halten Sie sich denn dann nicht daran?

Warum wollen Sie sich hier überhaupt anonym äußern? Haben Sie etwa irgendetwas zu verbergen? Das kann doch wohl nicht angehen – nehmen hier das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch, aber gehen dem Staat, der sich vor den Folgen Ihrer radikalen, nicht jüdisch-christlichen Mordhetze zu schützen versucht, kein bisschen kooperativ dabei zur Hand! Dabei verüben solche Taten doch nur vaterlandslose Kriminelle, die zu jeder Gewalttat bereit sind und keinerlei Skrupel kennen. Und Polizisten natürlich.

‚Nachher wird ein schreckliches, aber gerechtes Gericht kommen über die, so sich feig und unentschlossen verborgen hielten.‘ Na schauen Sie mal, das klingt doch sogar ganz ansprechend. Das finde ich gar nicht mal so schlecht. Ich sag’s ja, in jedem steckt doch ein guter Kern, nicht wahr? Wenn Sie ein bisschen nachdenken und sich ein wenig anpassen, dann kann aus Ihnen sogar noch etwas werden, Scholl!“