Die Türklingel ließ ein melodiöses Gebimmel erschallen. Schritte schlurften über die Dielen, dann öffnete er die Tür: Jean Chanteur, der Schlager-Pate. „Singer“, begrüßte er mich, „Hansi Singer. Ich hatte Sie bereits erwartet. Kommen Sie herein und machen Sie es sich bequem.“ Hier also entstand die Unterhaltungsmusik einer ganzen Nation.
Mein Gastgeber hatte sich in dem großen, knöchelhoch mit Papier bedeckten Zimmer ans Klavier gesetzt. „Bringen Sie mir den Stapel da nicht in Unordnung“, wie er mich an, „das wird die neue Platte für Freddy Pernambuco. Links neben der Stellage müsste eine Kiste liegen, da setzen Sie sich hin.“ Und wirklich befand sich ein Kasten unter dem Notenverhau. Ich nahm Platz. „Hören Sie mal – wie finden Sie das?“ Singer klimperte einige Akkorde und hub mit seiner nasalen, verrosteten Tenorstimme an zu säuseln: „Rote Rosen im Abendwind, davon träumen die Cowboys in Honolulu!“ Ich hüstelte. „Heiße Nächte in Rio, wo sind sie geblieben?“ „Pardon“, wandte ich ein, „dass in Honolulu Rinderzucht betrieben wird, das wäre mir jetzt neu.“ „Egal.“ Singer suchte bereits in einem Stapel unterhalb des Instruments. „Die meisten Leute wissen auch nicht, wo genau Rio liegt. Und die Platten verkaufen sich doch.“
Er hatte die passenden Noten gefunden. „Da haben wir’s. Das Problem ist, ich weiß nicht, ob ich es den Krachlhuber Schluderbuam oder Tony Tornado & The Beatstars andrehen soll.“ „Wo ist der Unterschied?“ Er seufzte. „Schwierig zu sagen, es ist kulturell ein ganz anderer Hintergrund.“ Das begriff ich – zumindest glaubte ich es. Doch er war ganz anderer Meinung. „Der Ober-Krachlhuber Mustafa ist verhältnismäßig konservativ eingestellt, Straubing eben, dem darf ich nichts Frivoles schreiben, das mögen die Niederbayern nicht. Und Tony heißt mit bürgerlichem Namen Andrzej Dembończyk, da müssen die Texte verhältnismäßig einfach sein. Er spricht ungefähr so gut Deutsch wie ein Fußballspieler.“
Auf dem Boden lagerte angefangenes Material in Hülle und Fülle. „Wie gesagt, man schreibt nicht immer alles für denselben Künstler. Deshalb muss man immer ein bisschen flexibel bleiben, und mit den kleinen Feinheiten kommt dann der Interpret mit seinem Lied auch zurecht. Wollen Sie mal hören?“ „Was bleibt mir anderes übrig“, resignierte ich, und schon griff Jean Chanteur in die Tasten. „Das ist Wahnsinn“, jodelte er – „Das wäre jetzt die Version für Tony Tornado, und dann haben wir die für Die Drei Desperados, wollen Sie mal…“ Ich zuckte ergeben mit den Schultern. „Das ist Irrsinn!“ Eine semantisch völlig unterschiedliche Nuance, das musste ich zugeben. Singer zeigte kein Mitleid. „Das ist Unsinn“, grölte er. „Wenn Martin Isecco den singen würde.“
Singer war kurz in den Flur geschlurft, um die Zigarettenschachtel aus seiner Jacke zu holen. Ich blätterte durch die Papiere auf dem Flügeldeckel. „Gaby Schlüpperke hat ihr neues Album von mir betexten lassen, soll ich Ihnen mal die – kennen Sie nicht? Kennen Sie Gaby Schlüpperke nicht?“ Ich musste passen, und er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Natürlich nicht, wie konnte ich auch so dumm sein! Chantal van Houten, die werden Sie doch wohl schon mal gehört haben? Passen Sie auf, wie finden Sie das?“ Bevor ich protestieren konnte, hatte er sich wieder an die Klaviatur gemacht. „Schallala, halli-hallo, yeah, yeah – schubi-dubi-du, trallali-trallala, schubidua!“ „Fantastisch“, antwortete ich trocken. „Das wird ihr internationaler Durchbruch. Wenigstens werden Sie für diesen Text den Übersetzer sparen.“ „Ich weiß nicht“, gab er skeptisch zurück, „ich weiß nicht, woran es liegt – aber in der Schweiz stagnieren ihre Verkaufszahlen.“
„Und das hier?“ Singer lief hochrot an. „Sie haben es gewusst?“ Er nestelte an seinem Kragen. „Bringen Sie mich bitte nicht in Verlegenheit in meinem Berufsverband – es darf keiner wissen, dass ich mir mittlerweile ein Zubrot verdienen muss.“ „Sie meinen wohl, Sie bestreiten Ihren Lebensunterhalt inzwischen zum größten Teil durch politische Propaganda.“ Er blickte mich verbittert an. „Ja, das stimmt. In meiner Studentenzeit war ich ein politischer Aktivist und wäre sicher einmal ein großer Autor geworden – Heine haben wir damals gelesen, Enzensberger! Grass! Aber dann bekam meine Frau das erste Kind, und dann musste ich irgendwie die Miete bezahlen, und da stand dann zufällig Hubert Kaloppke von den Swing-Jimbos. Und mein Schwiegervater in spe hatte eine elektrische Orgel im Keller stehen. Und ich hatte eine Menge Einfälle, was man alles machen könnte mit dieser drittklassigen Kapelle.“ Mitleidig sah ich ihn an; ein Leben im Frondienst der Schlagerbranche zog an mir vorbei, scheußliche Liedchen von Sonne und Südsee, ewiger Liebe und grauenerregenden Endreimen, stümperhaft nachgeplärrten Chansons und holpernden Kanzonetten, Alpenalbträumen und senilem Popgetöse im Rückwärtsgang. „Und wie halten Sie das aus?“ Er lächelte. „Sekundärrohstoffe. Ich verwerte die Sachen meist mehrfach. Kennen Sie das?“ Und schon hatte Jean Chanteur sich ins Klavier vergraben. „Ich schenke Dir die Sterne, Baby – am blauen Himmelszelt!“ Er setzte ab und schaute mich erwartungsvoll an. „Ich senke Dir die Steuern, Baby – und diesmal klappt’s bestimmt!“ Das also war sein Erfolgsgeheimnis. Hansi grinste. „Alte Autorenweisheit: manche Texte sind so bescheuert, die kann man nur singen.“
Satzspiegel