„Und dass man die, wo nicht arbeiten, nicht mehr Geld zahlen tut, weil dann haben die, wo arbeiten, nicht mehr Geld wie die, wo nicht Geld haben tun, weil sie arbeiten, und das ist doch nicht richtig, wo wir mit dem Euro – “ „Danke, das war schon sehr schön.“ Siebels lehnte sich langsam nach hinten und winkte unauffällig dem Beleuchter. „Wir haben als nächstes wen?“ Der grobschlächtige Mann im Lodenanzug stand schwerfällig auf und machte einen Diener in Richtung des Regisseurs. So also betrieb die Bundeskanzlerin Grundlagenforschung.
„Mein Name ist Gerlind Feldernheim“, stotterte die ältliche Brünette, die sich auf dem Podium niedergelassen hatte. „Die Partei müsste für mich viel mehr öffnen für traditionelle Familienwerte, wo noch Mann und Frau, wie soll ich sagen, also dass der Vater noch ein Mann ist und die Frau auch eine Mutter, also auch da, wo sie keine Kinder haben wollen, und dass man diese klassischen Werte auch irgendwie mehr als traditionell sieht.“ „Großartig“, murmelte der Fernsehmacher, „genau das hatte ich hier erwartet.“ Ich legte das Skript zur Seite. „Die Hinwendung zu traditionellen Familienstrukturen?“ „Nein“, antwortete Siebels, „diese wunderbare Art, die Wirklichkeit auszublenden und sich aus Versatzstücken eine ideologische Weltsicht zu rühren, die nicht ansatzweise den realen Anforderungen entspricht. Dass sie in einem rosaroten Mittelalter lebt, hat sie nicht bemerkt – sie würde es kritisieren, wenn die Regierung anfinge, Alleinerziehende ernsthaft zu fördern, weil diese Kategorie zwischen ihren Scheuklappen nicht vorkommt. – Frau Feldernheim, erzählen Sie uns doch ein bisschen über moderne Bildung.“
Siebels nippte an seinem Kaffee. „Das war ursprünglich als Werbematerial gedacht. Zum Glück hat es sich mit der Zeit immer mehr verselbstständigt.“ „Zum Glück?“ Er nickte. „Ja, man muss ja in dieser Partei auf jeden Mist gefasst sein. C wie Zukunft, verstehen Sie? Und dann ist man froh, wenn man nicht jede halbwegs vernünftige Aussage im Wahlkampf versickern lassen muss.“ „Was war eigentlich Ihr Auftrag“, fragte ich, „wenn ich mich recht entsinne, sollten Sie im Auftrag der CDU die Erwartungen der Mitglieder an die Inhalte der Partei eruieren.“ Siebels zog matt eine Augenbraue hoch. „Wenn man es genau nimmt, hatte uns die Parteizentrale aufgetragen, die 99%-ige Zustimmung der Mitglieder zu den Vorstellungen der Vorsitzenden herauszufinden. Was man mit Ostblockmethoden auch problemlos geschafft hätte.“
Herr Altnickel, Kunsterzieher und (wie er betonte) Altmitglied, da später in den Osten ausgewandert, bestand auf einem Kurs der permanenten gesellschaftlichen Fortentwicklung. „Uns fehlt die Kontinuität, wissen Sie, man möchte ja auch wissen, wie sich so eine Gesellschaft nun fortentwickelt.“ Siebels beugte sich vor uns drückte den Knopf an seinem Mikrofon. „Sie meinen, dass man die gesellschaftliche Entwicklung ungefähr wie im Sozialismus ansehen sollte, wo am Ende eine klassenlose Gesellschaft rauskommt?“ Der Mann in der Lederweste schüttelte seine lange, graue Mähne. „Nee, das ist bloß langsam zum Kotzen, dass die Merkel ihre Entscheidungen immer in aller Eile nach irgendwelchen Wahlen durchzieht, weil sie vorher erstmal ein paar Monate auf die Niederlage warten musste. Kann man denn nicht ein bisschen beständiger regieren?“ Der erprobte TV-Erfinder schmunzelte. „Ich bin wirklich begeistert. Man muss diesen Menschen Respekt zollen, sie haben wundervolle Ideen. Sie sind dafür, scheint’s, nur in der falschen Partei.“
Es nieselte. Siebels sog hastig an der Zigarette. „Was wird denn nun aus dem ganzen Material“, fragte ich, „für einen Wahlwerbespot ist es doch nun wirklich nicht geeignet.“ Er grinste. „Natürlich nicht. Wir schneiden es zusammen, thematisch geordnet und einigermaßen bereinigt. Und dann werden wir es der Vorsitzenden vorführen. Sie diskutiert auf Parteitagen ja immer gerne über den Markenkern der CDU. Mal sehen, was Sie dazu sagt.“ Ich runzelte die Stirn und klappte den Kragen hoch, da der Regen immer stärker wurde. „Ist denn hier ein Profil erkennbar?“ Siebels legte den Kopf schief. „Das Profil der CDU ist wie ein Autoreifen: sieht von Weitem rund aus, ist aber abgefahren und führt irgendwann zum Schleudern.“ „Also ein Kompetenzproblem.“ „Die CDU hat kein Problem mit mangelnden Kompetenzen, sie hat ein Problem mit mangelnder Kompetenz. Eine Partei für alte, satte Leute.“ Rasch zündete er sich eine weitere Zigarette an. „Nicht Merkel passt zur Partei, die Partei passt sich im schlimmsten Fall gerade Merkel an. Die CDU wird konturlos, beliebig und ein gutes Stück eigenmächtig, da offensichtlich eine Legitimation in vier Jahren ausreicht, um in der Zwischenzeit die Wähler zu veralbern.“
Der nächste Kandidat, ein rüstiger Mittneunziger, setzte sich ächzend vor die Kamera. „Vor allem sollte die Partei mal aufhören mit dem ganzen neumodernen Schnickschnack“, schimpfte er. „Im Ortsverein sitzen schon lauter junge Leute, die haben doch gar keine Lebenserfahrung! Die sind teilweise unter siebzig – das hätten wir uns damals nicht getraut!“ „Verstehen Sie, was ich meine?“ Siebels blickte mich erwartungsvoll an. „Keiner hat etwas gegen Siebzigjährige, nur sind die Siebzigjährigen von heute etwas weiter als die Fünfzigjährigen von damals.“ „Also muss die CDU mit einem neuen Angebot kommen.“ „Mit einer Zwangsmodernisierung vom Reißbrett, in der Werte durch Preise ersetzt werden. Sie rennen nach dem Glück, und das Glück rennt hinterher.“ „Dann ist die Profillosigkeit der Union nicht die Ursache der mangelnden Beteiligung, sondern ihre Folge – ein sinnloses Angebot.“ Siebels grunzte befriedigt. „Diese Partei vergrault die letzten Altwähler, wenn sie nicht schon gestorben sind, und verschreckt den Nachwuchs durch mangelnde altmodische Prinzipientreue. Das ist es. – Übrigens, wenn Sie nächste Woche noch nichts vorhaben, da produziere ich den Dreiteiler für die SPD.“
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