Agenda Merkel

15 09 2011

„Wozu eine Agenda? Es würde doch schon reichen, wenn man wüsste, wo vorne ist.“ „Warum nur so kritisch?“ „Weil man weder weiß, wo vorne ist, noch, ob sich gerade etwas mit Absicht in eine Richtung bewegt.“ „Deshalb ja eine Agenda.“ „Und was würde eine Agenda an der aktuellen Lage verändern?“ „Nichts. Aber wir hätten eine Agenda.“

„Es ist doch illusorisch, anzunehmen, dass sich die Kanzlerin an einen Fahrplan halten würde.“ „Das würde ich so nicht sagen. Immerhin weiß man mit einem Fahrplan, wo die Endhaltestelle ist.“ „Damit sie nicht auf Sicht fahren muss?“ „Und sie weiß ungefähr, wie lange die Reise dauert.“ „Ihren Koalitionspartnern scheint das ja weniger klar zu sein.“ „Eben, deshalb ist ja auch sie die Kanzlerin – und nicht eine dieser pubertierenden Witzfiguren.“ „Trotzdem, sie wird sich bewegen müssen.“ „Sie waren doch eben gerade noch gegen eine Agenda? Was denn nun, politische Richtung oder lähmendes Aussitzen?“ „Kann man nicht beides verbinden?“ „Müsste zu schaffen sein. Dann versuchen wir es mal mit der Agenda Merkel.“ „Warum nicht Agenda 2020?“ „Einerseits würde ich sagen, dass diese Marke seit Schröder etwas gelitten hat.“ „Und andererseits.“ „Das wollen Sie gar nicht wissen.“

„Gut, dann eine Agenda Merkel. Was kommt als erstes auf den Plan? Die Arbeitslosigkeit?“ „Sicher, die muss doch erhalten bleiben. Ansonsten wäre der Exporterfolg nachhaltig beschädigt.“ „Sie verstehen nicht: es ging um die Beseitigung.“ „Das ist eines der entschiedenen Ziele der CDU-Sozialpolitik, richtig.“ „Nein, die Beseitigung des Sozialstaates war hier nicht gemeint, sondern die politische…“ „Das verstehen Sie falsch, die Kanzlerin kümmert sich nicht um die politischen Folgen ihrer Ideen. Dazu hat sie ja die Ministerien, von deren Arbeit sie jeweils aus den Abendnachrichten erfährt.“ „Wenn es hier überhaupt keine konzertierte Arbeit geben sollte, wozu brauchen wir dann eine Agenda?“ „Man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben, dass sie in ihrer Schlussphase noch ein paar Anfängerfehler beseitigt.“

„Hat denn die Kanzlerin nicht erst in der Haushaltsdebatte eine Parlamentsrede gehalten und ihrer Partei erklärt, worum es ihr geht?“ „Was sicher auch recht überraschend gewesen sein muss für die Partei.“ „Dass man ihr etwas erklärt?“ „Dass Merkel überhaupt politische Ziele verfolgt. Aber das ist nicht das eigentliche Problem.“ „Weil man in der CDU geahnt hat, dass die Kanzlerin sich ab und zu auch politisch betätigt?“ „Weil der Rest der Republik zu der Vermutung keinen Anlass hat.“ „Aber sie muss doch wenigstens irgendwann eine politische Leitlinie verkündet haben.“ „Eine Leitlinie schon, aber wie kommen Sie auf den Trichter, die hätte etwas mit Politik zu tun?“ „Das muss doch mit Globalisierung, Zentralisierung und Stabilisierung zu tun haben, oder womit sonst?“ „Vornehmlich mit den inneren Werten der Union, und die haben ja nun mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun.“ „Aber die Stabilisierung…“ „… von Energiekonzernen und Verlagsmonopolen, aber mehr auch nicht.“ „Und sonst hat es keine Linie?“ „Wenn Sie den Abbau der Bürgerrechte abziehen, nein.“ „Aber was für eine Agenda soll denn da noch kommen? Können Sie mir das bitte mal verraten?“ „Sie hat es doch selbst gesagt: ‚Wir haben den Mut und die feste Absicht, Deutschland mit einer Koalition der Mitte voranzubringen. Das sollte uns auch tragen an Tagen, an denen es schwierig wird.‘“ „Was heißt das im Klartext?“ „Es sollte uns tragen – also reines Wunschdenken. Und das stand immerhin im Koalitionsvertrag.“ „Hat die Frau eigentlich ein Brett vor dem Kopf?“ „Ich würde sagen, nein. Eher eine Mauer.“

„Könnte das eventuell damit zusammenhängen, dass Merkel nie zuhört, wenn ein anderer spricht?“ „Im Wesentlichen ja, wobei es noch zu fragen ist, wer da redet.“ „Die FDP?“ „Das ist Feigheit vor dem Feind.“ „Die Opposition?“ „Das ist eher zu bedenken. Ob das Arroganz ist oder Dummheit.“ „Also gibt es gar keine Agenda?“ „Man braucht eben die richtigen Gesprächspartner bei diesen Themen. Über die grundsätzlichen Dinge redet man nicht einfach so, da braucht es schon eine stabile Partnerschaft.“ „Wie beispielsweise die Reste der Großen Koalition?“ „Durchaus, ja. Das könnte einer der Punkte auf der Agenda Merkel sein: die Wiederherstellung stabiler Machtverhältnisse in einer neuen Koalition mit der SPD.“ „Und Sie denken, dass sie das mit dem Koalitionsvertrag ins Auge gefasst hatte?“ „Kaum, denn dann hätte sie bis zum Horizont blicken müssen; so weit, werden Sie zugeben müssen, hat sie es nie geschafft.“

„Gut, aber jetzt: was kommt denn in diese Agenda rein? Was steht da drin? Was haben wir zu erwarten?“ „Natürlich erst einmal ein Europa der Nationen und eine gemeinsame Vision, denn scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ „Und?“ „Und die Exportwirtschaft darf natürlich nicht so stark eingegrenzt werden, wie das jetzt gefordert wird – weil man das auch als Zugeständnis nehmen kann für die, denen die Regulierung der Finanzmärkte zu weit ginge.“ „Und?“ „Und man müsste mit dem Klimaschutz, und das kann auch die europäische Sicherheitspolitik, weil man dann die Bundeswehr auch im Innern einsetzen kann, weil sie eine Berufsarmee ist, und zusammen mit den Eurobonds, für die Hartz IV gekürzt und das Elterngeld für Arbeitslose gestrichen wird, kann man dann die Autobahnmaut, und das schließt die Erhöhung der Mehrwertsteuer noch nicht ein, aber dafür braucht man kein Grundgesetz.“ „Sie halten das doch nicht etwa für realistisch?“ „Nein, realistisch wäre weiter wursteln und beten, dass die Sicherungen nicht rausfliegen.“ „Und das ist die Agenda Merkel?“ „Nein, das ist die Agenda 2013 – sonst weiß sie ja nicht, was sie macht, wenn sie wirklich kaltgestellt wird.“