Globulisierungskritik

21 09 2011

„G-g-g-guten T-t-t-t-tag!“ Der Laborant griff nach meiner Hand, offenbar, um sie zu schütteln – dabei schüttelte er sich gerade selbst durch. Eine große Glasflasche trug er in der Linken, die er rüttelte und wild durch die Luft schwenkte. „D-d-d-da k-k-k-kommt d-d-d-der…“ Professor Semmelrink winkte vom anderen Ende des Saales herüber. Hier also nahm sich die Behörde für Alternativmedizin ihrer Überreste an.

Wir schritten durch eine weite Halle, angefüllt mit Glaskolben und Wasserbecken, Bunsenbrennern und Retorten. Es plätscherte und klirrte, rasselte und prasselte. Laboranten in blütenweißen Kitteln eilten umher. „Das alles hier ist eine schwierige Angelegenheit“, teilte Professor Semmelrink mit. „Die abgelaufenen Medikamente müssen zunächst eingesammelt und klassifiziert werden, und das verursacht ja bei normalen Tabletten schon einen enormen Aufwand. Haben Sie eine Ahnung, wie viele unterschiedliche Kopfwehpillen es gibt? Und wenn Sie an andere Staaten denken, dort werden sie mit Ohrensalbe und Zahnpasta vermischt und kommen später wieder als Hustensaft – was haben Sie denn, Knittke?“ „Trocken“, strahlte der Gehilfe und wies auf eine lange Reihe gläserner Kolben. Semmelrink tätschelte ihm begütigend die Schulter. „Gut gemacht“, lobte er, „dann können Sie sie gleich wieder mit Wasser füllen.“ Knittke nickte und griff zu dem Plastikeimer; mit einem gezielten Schwung kippte er den Tisch voll.

„Unser Personal muss gewisse geistige Voraussetzungen mitbringen. Der eine jagt in seiner Freizeit Ufos in seinem Vorgarten, der andere hält sich für ein Auto…“ „Rotes Auto“, johlte der Mann. „… und der hier war bei der FDP.“ Schmerzhaft verzog ich das Gesicht. „Wie Sie hier sehen, haben wir es größtenteils mit Spezialisten zu tun, denn wir beschäftigen uns mit homöopathischen Präparaten.“ „Und was ist daran anders?“ Semmelrink lächelte überlegen. „Was würden Sie mit einem normalen Medikament machen, das Sie entsorgen wollen?“ Ich überlegte nicht lange. „Auseinandernehmen, verdünnen und wegkippen.“ Er nickte. „Sehen Sie, und genau das hätte bei unseren Medizinen eine verheerende Wirkung. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden eine hoch potenzierte Lösung einfach verdünnen.“ Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte. „Je mehr man es verdünnte, desto stärker würde die Wirkung – es könnten teuflische Gifte entstehen!“ „Und was unternehmen Sie dagegen?“ Er fasste mich am Ärmel. „Kommen Sie mal mit.“

Wie die Hühner auf der Stange, so saßen die Laborassistenten und schüttelten sich – vielmehr schüttelten sie Reagenzgläser mit Wasser. „Wir sind hier in der Verwirrungsabteilung. Bevor das Wasser mit den homöopathischen Wirkstoffen entsorgt werden kann, müssen wir es durcheinanderbringen. Dazu schütteln wir es.“ „Sie meinen, Sie stellen eine möglichst homogene Mischung her?“ Er runzelte die Stirn. „Aber nicht doch – was verstehen Sie eigentlich von Homöopathie?“ „Es reicht aus, um mich darüber lustig zu machen“, gab ich trocken zurück. „Das Wasser hat ein Gedächtnis, es erinnert sich an die Stoffe, die wir eingebracht haben, also müssen wir dieses Gedächtnis effektiv durcheinanderbringen.“ „Durch Schütteln?“ Er nickte. „Wenn man oft genug schüttelt, wird so ein Wassermolekül bestimmt genau so oft nach links geschleudert, wie es beim Potenzieren nach rechts gewirbelt wurde. Wir heben das Gedächtnis auf.“

Unterdessen hatte Knittke sich an eine Reihe von Klosettbecken begeben. „Sie spülen das Zeug ja doch einfach runter“, befand ich. „Aber nein“, widersprach Knittke. „Es landet nach dem Spülen wieder im Wassertank. Wir verwirbeln es nur, denn wie Sie wissen, strudelt es wegen der Corioliskraft immer in eine Richtung. Und damit irritieren wir das Wasser nachhaltig.“ Er krempelte sich den Ärml seines Kittels hoch, betätigte die Spülung und griff in den gurgelnden Wasserschwall. „Sie sehen“, rief er, „das Wasser ist vollkommen verwirrt!“

An einem anderen Tisch rührten und schüttelten die Laboranten Wasser in flachen Wannen. „Es wird behutsam wieder in den Stoffkreislauf eingebracht“, erläuterte Semmelrink. Ich runzelte die Stirn. „Wäre es nicht einfacher, das Zeug aufzukochen und einfach verdampfen zu lassen?“ „Um Himmels Willen!“ Er schlug die Hände zusammen. „Dabei würden doch die aufgelösten Wirkstoffe ebenfalls verdunsten und sich in der Luft anreichern – wollen Sie etwa riskieren, dass die ganze Stadt mit einer Überdosis an…“ „Wäre das denn schlimm?“ Semmelrink blickte mich fassungslos an. „Wenn Sie die Stoffe bewusst anreichern, heben Sie doch deren Wirksamkeit auf?“ „Sie sind ein Skeptiker“, knurrte Semmelrink. „Nicht doch“, antwortete ich. „Nur ein Globulisierungskritiker.“

Im Untergeschoss verlief ein langer Gang, der in einem gekachelten Laborraum endete. „Hier sehen Sie einen unserer spektakulärsten Erfolge – das Herzstück unserer Forschungen, der große Durchbruch.“ Er wies auf den gewaltigen Ball, wie man ihn zum Fuße eines Schneemanns verwenden würde, ein rundes und weißes Gebilde, zusammengerollt aus leichter Hand. „Aber nein“, lachte Semmelrink, „sehen Sie genauer hin. Das ist kein Schnee, nicht einmal nachgemachter!“ Ich beugte mich über das seltsame Objekt und roch. „Zucker“, sagte ich aufs Geratewohl, „Milchzucker möglicherweise – sind das etwa…?“ „Globuli“, bestätigte er. „Wir haben in langer Arbeit alle bei uns abgelieferten Globuli aneinander geklebt – Stück für Stück. Dieser Globulone hat eine derart hohe Wirkstoffdosis, dass er als homöopathisches Mittel nicht mehr zu gebrauchen ist. Wir können ihn dann – hoppla!“ Versehentlich war er im Reden gegen den Klops gestoßen, der, einmal aus dem Gleichgewicht, durch den Raum rollte und gegen einen Schrank prallte. Kügelchen sprangen durch die Gegend, der Globus zerbrach und zerbröselte. „Was habe ich nur getan“, jammerte er. „Was habe ich bloß da nur angerichtet – was soll ich denn jetzt bloß tun!“ „So schlimm?“ „Das war eine große Dosis Schwefelblüte mit Austernschalenkalk gegen Kopfschmerzen, Akne und Halsentzündung. Wenn nun bloß nicht passiert!“ „Seien Sie unbesorgt“, tröstete ich ihn, „Sie sagten doch selbst, in dieser Dosis sei das Ding homöopathisch wertlos?“ Er nickte. „Dann kann man es ja wie ein ganz normales Medikament behandeln und ins Abwasser spülen. Kommen Sie, fassen Sie mit an.“

Innerhalb einer Viertelstunde hatten wir die erklecklichen Überreste des Milchzuckerknödels aufgefegt und durch den Ausguss gestopft. Noch immer war Semmelrink skeptisch. „Und wenn doch die ganze Stadt morgen Migräne hat?“ Ich griff in meine Jackentasche und drückte ihm eine Kopfschmerztablette in die Hand. „Dann spülen Sie die hinterher. Die Verdünnung dürfte so groß sein, dass sie dagegen hilft – homöopathisch.“


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2 responses

21 09 2011
lamiacucina

nur wer für die Verschüttelung und Potenzierung anstelle des Wassers den auch von Hahnemännchen erlaubten Alkohol verwendet, erfährt die im „innern Wesen der Arzneien verborgene, geistartige Kraft“

21 09 2011
bee

Ein klarer Fall von Geist-Heilung.

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