Weniger Demokratie wagen

31 10 2011

„So ein richtig stockkonservatives Arschloch. Ganz recht, so einen bräuchten wir. Einen echten Macker, der den ganzen Drückebergern, Schlechtrednern, Leistungsverweigerern und Jammerlappen endlich mal ordentlich den Marsch blasen würde. Richtig authentisch. Knallhart, was sage ich: brutal. Das wäre eine echte Herausforderung – aber wenn wir so einen als Bundeskanzler hätten, mein lieber Scholli! Dann würde hier in Deutschland aber mal ein anderer Wind wehen!

Dieses richtungslose Geschwänzel von Merkel, das ist doch nicht zum Aushalten. Haben Sie ganz Recht, das ist alles ein erbärmliches Taktieren. Da braucht es klare Kante, Disziplin, und eherne Prinzipien, damit man auch mal etwas über Bord schmeißen kann. Da darf man sich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Und vor allem, da muss Zug dahinter sein. Wenn man schon eine Koalition zum Regieren braucht, hat der Koalitionspartner auch die Hacken zusammenzuschlagen, wenn der Chef das Kabinett betritt. Diese Hampelmänner aus der FDP, die werden wir dann abschaffen. Das ist doch unwürdig.

Es war doch schon immer die Stärke großer Staatsmänner, ihr Land vor allem in den großen Gefahren nicht im Stich zu lassen. Noch haben wir keine Katastrophen zu fürchten, aber mit etwas Glück kann sich das ja bald ändern.

Was stellen sich die Leute denn so an? Was wollen die denn noch? Wir haben doch schon einen Aufschwung! Den muss man doch nun auch mal nutzen, schließlich brauchen wir das Geld, sonst weinen uns die Banken bald wieder die Ohren voll. Was stellen die Leute hier für Ansprüche? Man sollte die Regelsätze sowieso anders ansetzen. Es reicht aus, den Arbeitsunwilligen Essensgutscheine zu geben – nicht zu viel, sonst fangen die an zu tauschen, dann haben wir bald einen Schwarzmarkt und die Dinger gehen an die Börse – und die teuren Mieten muss man auch nicht subventionieren. Warum nicht Wohnheime? Wir haben nach dem Krieg ganz andere Sachen erlebt, die Deutschen sind ja inzwischen wirklich verweichlicht.

Kann man Demokratie essen? Sehen Sie, und deshalb ist es auch nicht die beste Staatsform, in der wir leben können. Weniger Demokratie wagen! Wir haben schließlich eine Vision – nein, ernsthaft! Es ist die Vision von unendlichem Wachstum, die Arbeit und Wohlstand schafft, bei wem auch immer. Wenn wir sehen, wie sich die Länder der Dritten Welt bis heute behauptet haben, dann ist es doch nur logisch, dass wir uns an ihnen orientieren. Außerdem ist dieser wirtschaftliche Niedergang und die Umgestaltung zur Billiglohnwirtschaft doch ein Garant für Stabilität. Wer nicht unbedingt sicher sein kann, ob er, seine Familie oder ein paar andere, die zufällig denselben Nachnamen tragen, den Tag überleben werden, wird auch weniger unangenehm auffallen. Und sind wir nicht alle für den Frieden?

Eben, einen der zupackt. Der unangenehme Wahrheiten aussprechen kann. So einen bräuchten wir hier. Dieses Genörgel ist nicht auszuhalten! Schließlich ist das hier eine Gemeinschaftsaufgabe, die uns alle etwas angeht! Ja, nicht alle – da hatte Sarrazin schon Recht. Wir müssen da auch etwas differenzierter herangehen. Das mit den Juden war übertrieben. So genau kann man sicher nicht herausfinden, wer nun echter Feind ist, das muss man dem gesunden Volksempfinden überlassen. Und natürlich ist es nicht so ganz korrekt, dass man sich seine Statistiken auf dem Klo auswürfelt. Das bringt einem nur Applaus von der Opposition, und das ist dann schlecht für die Umfragewerte. Wir müssen aber mehr die Unzufriedenen bedienen, die Stammtische und die Besserwisser. Wir brauchen eine entschiedene Linie, verstehen Sie?

Natürlich haben wir Fehler gemacht. In der Zuwanderungspolitik, in der Finanzpolitik, in der Steuerpolitik, bei den Renten, und das mit den Atomkraftwerken war auch überstürzt. Aber das ist ja das Schöne, dass wir nicht ewig leben. Es gibt da zum Glück eine Generation, die das ausbaden darf, und mit etwas Glück ist sie zu jung, um das zu kapieren. Oder noch nicht geboren.

Deutschland ist wieder – wer? keine Ahnung, das müssen Sie mich nicht fragen, ich halte mich aus den tagespolitischen Sachen ja größtenteils raus – und das sollte man in Europa auch zu spüren kriegen. Wenn wir nicht mit unserer Exportpolitik den ganzen Weltmarkt dominieren würden, dann hätte es doch Europa gar nicht bis in diese Krise geschafft! Das muss man doch wohl auch mal sagen dürfen! Und die Wüstenvölker, die Afghanen, diese Muselmanen da, natürlich muss man die wegbomben. Wofür werden unsere Soldaten denn ausgebildet, etwa zum Hütchenspielen?

Wir brauchen jedenfalls keinen Kanzler, der sich in den Talkshows mit Betroffenheitsadressen zu Wort meldet, das ist ganz richtig. Wir brauchen einen Kanzler, der in den Talkshows entschieden für die Politik der Bundesregierung eintritt – notfalls sollte er so tun, als hätte er sie verstanden.

Für die Krise besser rüsten. Die deutschen Arbeitnehmer auch an die Verhältnisse in anderen Volkswirtschaften gewöhnen – wir machen dieses ganze Theater mit der Globalisierung schließlich nicht zum Spaß, aber das müssen Sie uns nicht erst erklären – und sich dafür einsetzen, dass wir wieder eine klare Daseinsdefinition für die subelitären Kasten ins Bewusstsein bekommen: Rendite erwirtschaften, konsumieren, sozial verträglich abkratzen. Du bist nichts, Deine Währung ist alles!

Doch, wir hatten neulich mit seinem Hausarzt telefoniert. Helmut Schmidt ist noch ansprechbar.“





Schubladendenken

30 10 2011

Wäre manchmal ganz hilfreich. Wenigstens bei Wolfgang Schäuble, der ja ab und an Umschläge im Schreibtisch vergisst. Diesmal 55,5 Milliarden. Vielleicht sollte er jemanden frage, der sich mit aktuellen Haushaltszahlen auskennt. Die Piraten haben da bestimmt etwas auf Lager. Alle anderen Luftbuchungen finden sich wie immer in den Suchmaschinentreffern der vergangenen 14 Tage.

  • haarwuchsverbesserung: Von innen durch die Kopfhaut drücken.
  • credunt quia absurdum: Das Parteimotto der CSU, nehme ich an?
  • haekelschwein selber haekeln: Schweinerei!
  • motorbiene: Auch auf der Vespa?
  • tattoo handgelenk innen malvorlage: Beachten Sie bitte die neuen Vorschriften zum Haltbarkeitsdatum.
  • fernsehbericht über einhorn verkleidung: Mit einem Zweithorn ist das Biest fast nicht mehr erkennbar.
  • fieguren basteln aus nudeltüten: Sie haben sich als Kind also ganze Spirelli in die Nase geschraubt?
  • beherzt in die luft herrchen: Für Flughunde geht das.
  • spontanpneu polizeidiensttauglich: Falls Sie mal versehentlich in eine Schere fallen.
  • eichhörnchenhaltung innen: Draußen finden Sie die eh nie wieder.
  • originelle wahlwerbung uhl piraten: Den Bayern als Standbild zu zeigen reicht schon aus.
  • molekularküche vergiftung: Dann aber wenigstens als Rauch in der Gelatinehülle.
  • großgebinde weihnachts potpourri: Silbereisen reicht Ihnen nicht aus?
  • eckiger spitztüten stern: Wir haben diesmal nur runde.
  • dosenweisswurst: In homöopathischen Dosen.
  • versuchsverlauf siedetemperatur brennspiritus: Vom Bestatterverband wärmstens empfohlen.
  • wohnrudel: Offenbar sind Sie von der Gentrifikation gestählt.
  • nächtlicher harndrang reisst mich aus dem schlaf: Solange Sie nicht aus dem Bett gespült werden, besteht noch Hoffnung.
  • marmeladengläser ddr: Gab es auch in rot.
  • laubsaugersack: Die sogenannte Loseblattsammlung.
  • ösophagusvarizen durch posaune: Die Vorzüge des Klavierspiels.
  • berlin haustürreparaturen: Wenn’s noch nicht brennt, war Körting nicht da.
  • kritik an ärzte ohne grenzen: Halten Sie sich im Zaum!
  • drano power gel selbstmord: Wenn Sie Essigessenz nehmen, erbt Ihre Familie mehr.
  • urnenregal mit schubladen: Falls mal jemand Opa sehen will.
  • hamsterkiste für schwäne: Wasservögel neigen zu Lernschwierigkeiten.
  • grabsteinspruch nicht mehr bei uns aber für immer in unserem herzen: Und denkst Du: blöder geht’s nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her.
  • persönlichkeitstypen in der leistungsgesellschaft: Typen, aber keine Persönlichkeiten.




In fünf Zeilen um die Welt. Limericks (LXV)

29 10 2011

Bastujew, der rollte in Plast
die Öltonnen ganz ohne Hast.
Und während er rollte,
der Sonne er zollte
Tribut. Und er macht erstmal Rast.

Des Nachts wachte Brøndum in Nuuk
und lauschte verängstigt dem Spuk.
Er hört es schuhuhen
(drum konnt er nicht ruhen),
das war eine Eule im Flug.

Das Dach deckte Igor in Twer,
das heißt: er versucht es. Denn schwer,
wenn man ohne Maßband
fürs Schindeln kein Maß fand,
dann passt es nur so ungefähr.

Zum Flammkuchen Pepi in Egg
holt Eier der Köchin und Speck.
Man hört sie drauf fluchen:
wo blieb nur der Kuchen?
Ach, fort war das ganze Gebäck!

Mawlejew, verärgert in Engels,
vom lauten Geschrei seiner Bengels,
er sucht seine Brille
und sorgt rasch für Stille
mit Hilfe des Weidenrohrstängels.

Zum Bichler, dem Hufschmied von Zürs,
kam man mit dem Pferd und sprach: „Führ’s,
bei anderen Gäulen,
da drohen oft Beulen,
bei Dir nicht – wegen des Gespürs.“

Man sah Klopkins Chancen in Resch
auf Brautschau beschränkt. Er war fesch,
doch hörte man unken,
er sei stets betrunken,
und wenn er dann sprach, war’s Gewäsch.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CXXV): Trendgetränke

28 10 2011
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Im Anfang war das Wasser, Leben spendendes Element für Quastenflosser, Feuerquallen und alles, das dem Hominiden das Dasein abwechslungsreich gestaltet, Ausgangspunkt zahlreicher zivilisatorisch wertvoller Kulturtechniken wie Blanchieren oder Buntwäsche, Kristallisationskern der hydraulischen Gesellschaft, die uns mit Bürokratie, einer langsam degenerierenden Priesterkönigskaste sowie stetig steigendem sozialen Druck beglückte. Dem Tier gleich trank es der Mensch, hielt es in wüsten Gebieten heilig und ersoff in Küstennähe darin. Mittel zum Zweck ward es dem fortgeschrittenen Frühgeschichtler, der den Weinstock damit goss, es zu blubbernder Gerstenpampe verschwiemelte oder schlicht als Lösungsmittel für Pflanzenauszüge benutzte. Doch wie gesagt, der stetig steigende Druck: ich habe das, was Du nicht hast, und das ist anders. Der Beknackte erfand das Trendgetränk.

Wie stets in den Niederungen der Neidkultur misst sich das Exquisite nur an seiner Seltenheit. Kein geistig zurechnungsfähiger Schlucker käme auf die Idee, sich die im Darm des Fleckenmusangs angegammelte Arabicakirsche in den Schlund zu kippen, der in Indonesien sozialisierte Maul-Held jedoch konsumiert den vorgewieselten Kaffee ohne Ekel – wer angesagt sein will, braucht selten durch guten Geschmack aufzufallen, eine leichte Schräge im Inhalt reicht vollkommen. Nicht der durch Reinheit der Aromen bestechende Grüntee aus der Plantage unterhalb von Buddhas Zehennägeln macht das Rennen, geschweige der Pinot, Merlot oder Weißherbst (letzterer eh nur im Endstadium diverser Hirnkrankheiten als Ausfallerscheinung der Triebsteuerung wirklich zu verzeihen), der im Kontrast zu seinen genetischen Nachbarn nicht wie die nächstgelegenen Getränkerückgabestelle riecht. Den Hipnesspunkt holt sich die hinterletzte Plempe aus der gustatorischen Gefahrenzone, Tresterbrand aus dem Betonkanister, von Kennern als Abbeizer geschätzt, außerhalb der Erzeugerregion jedoch für den menschlichten Genuss zweckentfremdet. Wenn das Zeug nur kein anderer auftreibt.

Ganze Kulturzweige siedeln sich rund um das Trendgetrinke an, Kaffeehäuser, Teestuben und Bierzelte. Löffel, Tassen und Glas entwirft der satisfaktionssüchtige Windbeutel um Absinth und Glögg, Wissenschaft und Ideologie samt Dogmen, wie ein Punsch zuzubereiten und in die Birne zu bembeln sei. Mumme, Mate und Muckefuck werden für die ansonsten stilresistente Schicht zum Abzeichen der Zugehörigkeit, der zunehmend die Fremdzwänge zu Selbstzwängen erklärt – wer die Lüttje Lage nur unter Einnässen schafft, ist raus.

Das kulturelle Kapital verlangt dem Bekloppten seinen Zins ab. Ist zwischenzeitlich auch dem gemeinen Proleten der Champagner geläufig, muss der Hochglanzegologe zum Prosecco übergehen, der alsbald dem Crémant weicht. Der Jugendmarkt zieht nach, Schrillbrausen mit allerhand süßlichem Gebritzel, Holunderplörre und Litschilutschi machen Durst zur körperlichen Herausforderung, deren Aufpolsterung mit Vitaminen, Werbung, Süß- und Sauerstoff, Pseudoapfel und Limettenimitat dem Konsumenten etwas ins Ohr rhabarbern, was kein Designer ernsthaft in der dünn angerührten Brühe zu verklappen vermöchte. Je mehr das Zeug nach Klostein schmeckt, biologisch abbaubar riecht und sich den Anstrich einer mutagenen Kreuzung aus Bier, Säftchen und chemischer Keule gibt, desto mehr handelt es sich um ein geschickt eingesetztes Verdeppungskommando der Recyclingindustrie.

Und natürlich dreht sich auch hier die Schraube weiter. Der Bescheuerte hat mit dem Lifestyle zu gehen und sich aus den hirnrodenden Varianten der Geschmacksverkalkung die denkbar dämlichsten herauszusuchen. Light- und Zuckerersatz-Schmotz, Energy- und Obstbreigesöff mit und ohne Begasung oder halb so viel wie doppelt, kariert, mit Molke, Hanf und Hafenschlamm, Hauptsache, kein Berufsirrer aus dem Konkurrenzunternehmen ist je auf den Gedanken gekommen, Jahrgangseigenurin mit Waldmeisterstrunk in Dosen zu pumpen und für teures Geld unter die kognitiv Suboptimierten zu bringen. Was uns da noch droht, Chili-Spülwasser-Mix mit vergoldeten Würmern, Lebertrancola im Kirschwassermantel, ist nur im Drogenrausch zu erahnen.

Der aktuelle Trend hat die Molekularküche erreicht, jenes psychophysische Modemassaker an der Papillenfront, für den sich der Trendtrinker festkörperförmigen Blasentee hinters Zäpfchen zwiebelt. Schmeckt beschissen, sieht beschissen aus, schlürft sich nur unwesentlich schlechter als Treibsand mit Eiswürfeln, kostet aber teure Dublonen und signalisiert allen anderen Blödblunzen, dass hier ein wahrer Kenner sich die Kohle aus der Tasche leiern lässt. Das muss man nachmachen, sonst stellt sich der befriedigende Effekt beim Jetztzeitler nicht ein: ein Lemming zu sein, der blind und verdübelt jede Verrenkung mitturnt. Es gibt kein Entkommen. Sie haben die Welt verkauft. Vermutlich für einen Americano Iced Spicy Fakeshot Caramellino White Flavored Cream Bongo Bleargh. Mit Zucker.





O du fröhliche

27 10 2011

„Soll ich eine rote oder eine grüne oder eine gelbe nehmen?“ Hildegard hielt die Lichterketten in die Höhe. Mir schwirrte der Kopf. Was musste ich mit ihr auch den Weihnachtssupermarkt besuchen.

Eine Zeitungsanzeige hatte das Verhängnis bewirkt. „Sie verkaufen dieses Jahr schon im Oktober“, jubelte sie. Meine zaghafte Anmerkung, dass im vergangenen Jahr Rudis Schnäppchenhalde (vormals Brockensammlung Südwest, inzwischen Töllbeckers Kruschtcontainer) bereits im August die Pforten geöffnet hatte, Spekulatius und Stollen inklusive, ging in Hildegards festlicher Stimmung unter. „Wir werden uns diesmal rechtzeitig mit dem saisonalen Bedarf eindecken“, entschied sie, „dann brauchen wir in der Weihnachtszeit keinen Finger mehr zu rühren, können es uns jedes Wochenende gemütlich machen und haben vielleicht schon ein hübsches Geburtstagsgeschenk für meinen Vater.“ Dass sie seit Anbeginn unserer Bekanntschaft jedes Wochenende der Adventsperiode aus chronischer Aversion alleine zu Hause zuzubringen pflegte, ließ ich unkommentiert. Dafür machte ich sie gar nicht erst darauf aufmerksam, dass ihr Vater erst im April seinen Geburtstag zu feiern hatte. Man muss ja nicht immer alles komplizierter machen, als es ist.

„Jetzt stell Dich nicht so an!“ Gelangweilt schlich ich durch das Kaufhaus-Tiefgeschoss, das in langen Regalreihen mit allerlei Krimskrams, Firlefanz und Pofel vollgestopft war. Adventskranz reihte sich an Adventskranz, mit minimalem Unterschied: die einen waren aus Kunststoff, die anderen aus Plastik. Immergrün leuchtete es, in der Kopfnote zwischen Tankstelle und Laboratorium duftend, von einer mannshohen Pyramide aus Tannenbaumständern komplettiert. „Wir könnten doch eine tropffeste Tonschale nehmen“, schwärmte Hildegard und hielt ein besonders scheußliches Stück Steinzeug aus Polyurethan unter meine Nase. „Wozu eine Schale“, entgegnete ich apathisch, „Du hast doch schon zwölf Packungen Tannengrün in abwaschbarer Qualität im Wagen.“ „Und?“ Sie blitzte mich an. „Das ist spülmaschinenfest und schnell trocknend. Wo bekommt man denn heute noch Tanne mit diesen Produktfeatures? Aus Breschkes Garten jedenfalls nicht!“

„Darf ich Ihnen helfen?“ Wie aus dem Boden gewachsen stand der Verkäufer vor uns. Offenbar hatte man ihn in seinen Anzug gebügelt, das ölige Lächeln verhieß nichts Gutes. „Zeigen Sie uns bitte den Ausgang“, antwortete ich, „und wenn Sie freundlicherweise vorangehen würden?“ Er musste es überhört haben. „Hier haben wir eine entzückende Kuscheldecke mit Rentiermotiven, Polyester mit Acetatbeimischungen, waschbar bis dreißig Grad.“ Er entfaltete eine Puschelplane, die von asymmetrisch angeordneten Flecken übersät war. Vermutlich handelte es sich um das Rentier-Dekor. „Und wenn Sie hier einmal schauen möchten?“ Eine fast gleich aussehende Decke, laut Etikett Mikrofaser aus reinem Schurwollnerz, bereits in der Wolle mit gelb-braun-lila Herzchen bedruckt. „Die können Sie selbstverständlich auch waschen, sofern es sich um Dreißig-Grad-Wäsche handelt.“ „Und der Feudel da?“ Der Verkäufer hob ein angeschmutztes, flusiges Stück Stoff an. „Das bekommen Sie zum Sonderpreis – reine Webkante, mit Baumwolle vernähte Troddeln, rustikale Felloptik in den Querstreifen. Das muss man haben. Nicht nur für dreißig Grad, auch für die Kaltwäsche zu empfehlen.“ Hildegard beäugte das Textil. „Und das ist bei Ihnen Weihnachtsdekoration?“ „Sicher“, lächelte der Verkäufer. „Aber ich gebe Ihnen einen Tipp: wenn Sie bis Ostern warten, bekommen Sie zehn Prozent Rabatt!“

Einen Gang weiter lauerte eine Zuckerorgie. „Schokolade“, informierte mich Hildegard über das reihenweise aufgestellte Evidente, das sich in buntem Stanniol zur Armee der Weihnachtsmänner zusammengerottet hatte. „Vollmilch, Alpenmilch, Zartbitter, Edelbitter, Halbbitter, Bitter, Mokka und weiße Schokolade.“ „Ich nehme einen aus weißer Schokolade“, entschied ich. Hildegard zog eine Augenbraue in die Höhe. „Das war mir neu“, sagte sie erstaunt, „dass Du weiße Schokolade magst. Normalerweise isst Du doch nur Zartbitter.“ „Aus Umweltgründen“, erläuterte ich und griff nach einem der Nikoläuse, wie er feist und farbig mit seiner aufgedruckten Robe vor mir stand und seine aufgedruckte Rute schwang. „Aus Umweltgründen. Die weiße Schokolade reflektiert mehr Licht, wenn wir in der dunklen Adventszeit bei Kerzenschein sitzen. Zartbitter wäre nur mit Energiesparlampe zu erkennen, und eine Edelbitter mit hohem Kakaoanteil erfordert Halogenstrahler.“ Meine Gefährtin knirschte mit den Zähnen. „Ich für meinen Teil werde nicht auf Schokoladenfiguren verzichten, der Herr kann das gerne anders halten, wenn ihm danach sein sollte.“ Ein Arm voller Alpenrahm-Hohlkörper in zeitlosem Santa-Design unterstrich ihren Entschluss. Zur Beruhigung der Nerven schaufelte sie je ein halbes Dutzend Tafeln Rum-Trauben-Nuss, Noisette, Orangentrüffel und Erdbeerjoghurt hinterher.

Dergestalt mit Proviant ausgerüstet schwenkte Hildegard den Wagen im Bustrophedon herum und bog in die nächste Allee ein. „Engel“, stammelte sie. Das war keine Übertreibung; vor meinen Augen türmten sich Flügelfiguren, Goldengel, Silberengel, Glitzer- und Flitterengel, Rausch- und Flauschengel und Knautschengel, Engel aus Taiwan, Engel aus Neu-Gablonz, Engel aus England. „Wir brauchen unbedingt für die Fensterbank und für die Küche und das Arbeitszimmer“, stieß sie hervor. „Wir müssen hier mindestens. Und dann noch einen für. Und ins Bad! Und auf den Balkon! Die Garage!“ „Welche Garage“, fragte ich verstört. Aber sie war schon weiter. „Die da“, schrie sie, „haltet sie fest!“ Eine andere Weihnachtssüchtige hatte das Regal erklommen; mit affenartiger Gelenkigkeit hangelte sie sich an den Stellage hoch und klemmte sich ein Doppelpack Putten zwischen die Zähne – offenbar von den beiden verfetteten Blagen inspiriert, die sich unter Raffaels Madonna lümmeln. Schon war der Verkäufer zur Stelle. „Wir haben die noch im Lager“, schrie er und drückte Hildegard einen Karton Flügelbuben in die Hand. „Noch“, gurgelte sie, „mehr Engel! Mehr!“

„Dann wären das – Moment, Sie zahlen mit Karte?“ Nach einer kurzen Konsultation mit meinem Bankberater über alle gesetzlich zulässigen Finanzierungsmöglichkeiten entschieden wir uns gegen den Verkauf einer meiner Nieren und begannen den langen, schmerzvollen Prozess der Verhandlung über Ratenzahlung. Hildegard brachte zwei Mietshäuser ihrer älteren Schwester als Sicherheit ins Spiel, ihr Status als Beamtin gab der Erörterung eine nicht uninteressante Wendung. „Sie werden es nicht bereuen“, lächelte die Kassiererin und drückte den Kassenknopf. Die Sirene jaulte auf, Konfetti prasselte unvermittelt von der Decke. Zwei leicht übergewichtige Aushilfsstripperinnen in Gold – mutmaßlich die Nachfahren der Engelchen auf der Sixtina – stöckelten durch die Kassenschlange und setzten uns in Kenntnis, dass wir die einhunderttausendsten Kunden seien. Die Kassenkraft strahlte. „Sie haben einen Traumurlaub gewonnen! Zehn Tage Palmen in Santa Watumba, Vollpension im Ferienclub, Fünf-Sterne-Hotel und Flug erster Klasse – Ihre Luxusreise über die Weihnachtsfeiertage!“ Hildegard sah mich an; ich sah Hildegard an. „Entschuldigung, aber könnten wir dann diesen ganzen Mist stornieren?“





Bastelstunde

26 10 2011

„Von mir aus können Sie ruhig ein Evangeliker sein. Oder so einer von diesen Achtundsechzigern. Man muss ja nehmen, was man kriegt. Oder wenn Sie vielleicht Ausländer sind, ich meine, einer von den guten. Amerikaner oder Liechtensteiner. Aber wir wissen ja, dass die alle nicht schuld sind an der aktuellen Lage. Wir wissen das hier, wir haben genau aufgepasst. Schuld ist das Internet.

Natürlich müssen wir auch umdenken können. Man wird ja nicht gewählt, wenn man den Leuten fünfzig Jahre lang dieselben Lügen auftischt. Da müssen schon ab und zu neue her. Und wir haben ein völlig neues Feindbild, das hatte es so vorher noch nie gegeben. Der Russe hat das nicht gebracht, der Ossi nicht, aber mit dem Internet, da können wir eigentlich machen, was wir wollen. Das klappt immer. Man muss dem Wähler nur mal ein paar neue Gefährdungslagen hinwerfen – Phishing oder Online-Bankraub oder Facebook – und schon haben alle ganz furchtbare Angst.

Sie müssen die richtigen Statistiken bedienen. Es haben bei der vergangenen Bundestagswahl 11.828.277 Bürger für die CDU gestimmt, aber 800 Millionen Personen sind wenigstens einmal im Monat auf Facebook. Das heißt, pro Monat haben anständige Bundesbürger 68 Schwerverbrecher gegen sich, Mörder, Betrüger und Diebe, die Ihnen im Internet die Online-Dateien rauben. Ist das nicht großartig?

Schauen Sie, das Netz schafft Produktivität, es ermöglicht neue Formen der Kommunikation und Vernetzung, es erleichtert Geschäfte – von unseren rechtstreuen Bürgern, aber auch von Kriminellen. Und wenn man feststellt, dass es Dinge gibt, die den Kriminellen etwas nützen – diesen Linken beispielsweise, oder auch Muslimen oder den Grünen, wenn die nicht mehr mit uns koalieren – dann muss man die doch verbieten dürfen?

Es gibt da schon Gewissenskonflikte. Man muss ja auch mal sehen, wie sich die gesellschaftlichen Prozesse da gestalten. Schauen Sie, nur mal als Beispiel: die Kirche. Also die richtige jetzt, die mit dem Papst. Da mag es ab und zu auch unschöne Vorfälle gegeben haben. Die Baugenehmigung für den Kölner Dom, beispielsweise, die sollten Sie heute mal genauer unter die Lupe nehmen, aber ich frage Sie: wollen wir auf diesem Niveau wirklich diskutieren? Eben, und wenn man jetzt vor dem Hintergrund sieht, dass der Vatikan in dieses Interweb geht! Ich meine, das ist doch nicht gut, oder? Das ist doch ein großes Wagnis, wenn der Papst und seine Leute derart verweltlichte Dinge treiben?

Das hatte ich mir auch schon gedacht: Kontakt mit den sündigen Menschen. Man begibt sich in die konkrete Interaktion mit den Personen, die man aus dem sozialen Abseits holen will. Ein Ausdruck der Verantwortung für den Nächsten. Sie sehen es doch selbst, das passt doch hinten und vorne nicht zur römisch-katholischen Kirche!

Denn dieses Webnetz, das ist schon eine große Versuchung. Wenn Sie sich mal überlegen, was da inzwischen alles versucht wird – es darf nicht den Zugangsanbietern obliegen, zu entscheiden, was im Netz transportiert wird. Der Nutzer muss entscheiden können, was ihn interessiert. Und falls wir der Meinung sind, dass es ihn nicht zu interessieren hat, dann darf man da nicht lange diskutieren, dann muss man da mal etwas machen! Und das dient letztlich auch unserer Wirtschaft. Eine Vorfahrt für Daten bestimmter Betreiber oder Anbieter darf es nicht geben. Es sei denn, Sie zahlen mehr, dann sollten Sie natürlich auch mehr Privilegien genießen. Aber das ist eine Sache der Bürger. Und wenn es schief geht, können wir ja immer noch gesagt, dass wir es eigentlich vorher schon gewusst hätten, wenn wir davon etwas verstehen würden.

Die Gefahr, die ist real: wir haben eine komplette Untergrundwirtschaft im Netz – ein Warenhaus, in dem sich jeder sein Verbrecherwerkzeug zusammenkaufen kann, wo sie PINs oder Schadsoftware bekommen. Früher benötigten Sie tieferes kriminelles Know-how und hohe kriminelle Energie. Heute kann jeder durchschnittlich begabte Kriminelle Baukästen für Schadsoftware kaufen. Das ist so einfach, da kann sogar ich mir einen Trojaner basteln.

Und das ist ja auch das Schöne, durch dieses Webinternetz und diese ganzen Online-Blogs und das Zeugs da können wir zur Selbstversorgung übergehen. Was in Berlin nicht richtig geklappt hat, das kriegen wir jetzt mit eine Internet-Initiative hin: wir machen uns die Terroristen im Internet selbst. Die vom BKA haben ja gesagt, sie kriegen das irgendwie hin. Dann muss das wohl auch stimmen.

Es gibt doch schöne Sachen auch, das wollen wir gar nicht bestreiten. Neulich hat der Dobrindt in einem Internet-Blog ein Werbebild angesurft und einen kostengünstigen Nachdruck gefunden von Mein Kampf – und so günstig, Porto und Verpackung alles inklusive, und man konnte es sich sogar ohne Namensnennung schicken lassen! Ja, ein paar Sachen sind doch ganz in Ordnung in diesem Netz, das ist wohl wahr.

Aber ein bisschen in Sorge sind wir schon. Wegen der Sicherheitsbestimmungen, wissen Sie, und was den Datenschutz angeht. Und Facebook. Und das Twitter da. Und die Suchmaschinen, in denen man auch Überschriften findet. Meinen Sie, dass unser Wissensvorsprung vor den Piraten noch für zwei Jahre ausreicht?“





Schwarze Musik

25 10 2011

„… da die US-amerikanische Justiz gemäß S.978 die öffentliche Aufführung von urheberrechtlich geschützter Musik mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren…“

„… musste vor der Übernahme in das deutsche Urheberrecht nicht geklärt werden. Die GEMA gab zu Protokoll, man werde im Falle einer Anwendung jeden Einzelfall beurteilen, und zwar so, dass er den Interessen der GEMA nicht…“

„… erste schwere Rückschläge, da ein Teil der staatlichen Kontrollbeamten ihre Kompetenzen nicht richtig verinnerlicht hätten. So vermeinte ein Bremer Hauptkommissar, seine Sicherungstätigkeit beziehe sich nur auf unerwünschte Musik, so dass er etliche Aufführungen deutscher Schlager auf öffentlichen Plätzen gar nicht…“

„… zunächst Alle meine Entchen und Es geht ein Bi-Ba-Butzemann, später Weihnachtslieder-Medley gesungen. Die Straftäter, zwanzig laut eigener Aussage nicht hauptberufliche Musiker zwischen zwei und vier Jahren, wurden zur erkennungsdienstlichen Behandlung in eine…“

„… es den Dortmunder Angestellten Marvin R. (23) traf. Der Speditionskaufmann hatte durch öffentliches Abspielen seines Handyklingeltons viele Zuhörer kostenfrei mit der urheberrechtlich geschützten Musik…“

„… auch im Internet zugegriffen. Laut LKA Hessen konnten Ermittler anhand der Tonspur eines YouTube-Videos nachweisen, dass der Gesang eines Familienvaters bei seiner Geburtstagsfeier stark verlangsamt und rückwärts gespielt eindeutige Ähnlichkeit mit Tonfolgen aus Bei mir bist Du schoen, Rock around the Clock sowie dreiundvierzig weiteren Stücken hatte. Die IFPI forderte eine Zahlung von 26,3 Millionen Euro und lehnte jede weitere…“

„… forderte Bosbach die Ausweitung der Maßnahmen, um Urheberrechtsterroranschläge zu verhindern. Nur durch konsequente, lückenlose akustische Überwachung des öffentlichen Raums seien schwerste Straftaten wie Überschreiten des Zitatrechts oder Entstellung des Werks noch zu verhindern. Es seien präventive Audionacktscanner als letzte Maßnahmen zu…“

„… wurde die Feierabend-Combo Rocko und die Rhythmiker gewaltsam vom Podium gezerrt. Die Spitzel hatten sich zunächst an Bier und Nudelsalat auf dem Fest der Schrebergärtner verlustiert, nach mehreren Stücken wie Im Frühtau zu Berge und Schwarzbraun ist die Haselnuss jedoch die Schusswaffen…“

„… noch keine Bestimmungen gegen das unbefugte Sichverschaffen akustischer Erlebnisse erlassen. Laut Urteil des Verwaltungsgerichts Gera bestehe auch bei zufällig anwesenden Personen eine Hörerhaftung, deren…“

„… hatte die Polizei von Oberpfaffenhofen alle dreißig Mitglieder der Blaskapelle nach einer nicht angemeldeten Aufführung der Lottchen-Polka präventiv krankenhausreif geschlagen. Kauder lobte das harte Durchgreifen der Ordnungsbehörde, mahnte aber an, die Beamten hätten zuvor zwei Kopfschüsse…“

„… noch keine Entscheidung, ob das geistige Eigentum geschädigt worden sei. Die Bäckerinnung bestand auf dem Verbot, selbst gebackenes Brot zu verzehren, da jedes nicht gekaufte Brot eine Schädigung des Bäckereihandwerks…“

„… den Liedermacher Wolf P. (54), der seine eigenen Songs mit seiner eigener Gitarre begleitend in seinem eigenen Keller gesungen hatte. Die Behörde wies die Kontrollbeamten an, Prüfungen vorzunehmen, ob sich in der Schallschutzisolation des Reihenhauses Lücken befänden, durch die P. sich als Urheber selbst geschädigt haben könnte, so dass durch die Absurdität des Tatvorwurfs bereits ein besonderes öffentliches Interesse…“

„… empfindliche Störung des evangelischen Gottesdienstes in St. Firminus (Dötlingen), als eine zwölfköpfige Mannschaft der Bereitschaftspolizei Oldenburg in Oldenburg die Kirche stürmte und die vorweihnachtlich gestimmte Gemeinde teilweise grob zu Boden rang. Dass Luthers Adventschoral Nun komm, der Heiden Heiland im Wesentlichen Material aus dem ambrosianischen Hymnus Veni redemptor gentium beinhalte, sei ein Beweis dafür, dass Filesharing eine weit in der Bevölkerung verbreitete Straftat…“

„… Streitigkeiten, ob bei der Übertragung in das deutsche Urheberrechtsgesetz nicht ein Fehler unterlaufen sein könnte, da es sich im Wesentlichen nicht um Urheber-, sondern Leistungsschutzrecht handle. Kauder teilte dem Ausschuss mit, es bestehe seines Wissens nach überhaupt kein Unterschied zwischen…“

„… alle dreißig Teilnehmer einer Senioren-Kaffeefahrt verhaften ließ, die mit Hilfe einer vom Betreuer vertauschten Karaoke-CD thailändische Volkslieder nachsingen wollten – das BKA stellte fest, hier zähle bereits der Tatversuch als eine…“

„… beharrte der Vorstandsvorsitzende Heker auf der Weigerung der GEMA, die inzwischen weiter verlängerten Aufführungsrechte der Nationalhymne für Fußballländerspiele einzuräumen. Als letzten Vermittlungsversuch schlug Dieter Gorny vor, die DFB-Elf öffentlich das Horst-Wessel-Lied singen zu lassen; man habe in der SPD bisher nur gute Erfahrungen damit…“

„… sich laut Aussage der Kontrolleure bei der vermeintlich still in der Hamburger S-Bahn sitzenden Studentin Clara T. (21) um eine Raubaufführerin handelte. Es könne nicht ganz ausgeschlossen werden, dass es sich bei der unbeteiligten Haltung um eine illegale Aufführung von 4′33″ des Komponisten John Cage…“

„… keinen linksterroristischen Hintergrund. In der Nähe des ausgebrannten Fahrzeugs fanden die Fahnder ein Bekennerschreiben des Justin-Bieber-Fanclubs Potsdam, in dem…“

„… nachdem sich die mutmaßlichen Straftäter geteilt hätten, Bruder Jakob als dreistimmiger Kanon erklungen sei. Durch die mehrmals erfolgte Stimmverdoppelung hielt die Strafkammer den Tatvorwurf einer zusätzlichen Raubkopie für gleichfalls…“

„… zu Beratungen, ob man nicht, möglichst mit Hilfe der Bundestrojaners, strafbare Melodien unterschieben könnte. Der bayerische Innenminister Hermann bestand darauf, dies sei machbar, wurde aber von Landesbeamten belehrt, die meisten Musiker seien gar nicht netzwerkfähig, so dass…“

„… wenigstens einen positiven Nebeneffekt, da neuerdings durch die massive Polizeipräsenz mit Batteriekassettenrekordern die Kölner Innenstadt komplett frei von Panflöten und…“





Im Anfang war das Wort

24 10 2011

„Können wir das endlich mal beenden? Ich kann diesen ganzen Mist nicht mehr hören!“ „Aber wir wollten in dieser Legislaturperiode…“ „Schluss jetzt! Mir platzt gleich der Kragen!“ „… doch noch eine…“ „Wenn Sie das Wort sagen, dann setzt es was!“ „Wir müssen doch aber etwas machen, die Bürgerinnen und Bürger haben doch die Regierung gewählt dafür, dass da etwas passiert!“ „Haben die Ihren laden auch für das gewählt, was Sie ansonsten fabriziert haben? Na!?“

„Aber jetzt schauen Sie doch mal: die kleinen Einkommen müssen doch…“ „Ich sagte: Schluss! Ich will nichts mehr zu dem Thema hören, ist das angekommen?“ „Sie missverstehen: wir wollen doch bloß Gerechtigkeit. Einen sozialen Ausgleich. Eine Weiterentwicklung der sozialen Perspektive im Konzept des mitfühlenden Liberalismus.“ „Warum nehme ich Ihnen das nicht ab?“ „Sie müssen gar nicht so hochnäsig sein, wir sind uns dessen bewusst, dass wir die Leistungsträger dieser Gesellschaft motivieren müssen, dass wir Anreize schaffen müssen, um mehr Wachstum in diesem Land zu bekommen. Und darum führt auch kein Weg vorbei an einer Senkung…“ „Ich will das nicht hören!“ „Es führt kein Weg daran vorbei, nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis. Wenn die Arbeitnehmer in Deutschland nicht endlich in den steuerlichen…“ „Das Wort! ich will das verdammte Wort nicht mehr hören! Ist das jetzt endlich klar!?“

„Gut, anders: es bedarf einer neuen Gewichtung bei den Bundesfinanzen. Eine Angleichung. Eine mitfühlende Restrukturierung.“ „Kommen Sie zum Punkt, Mann.“ „Der Solidaritätszuschlag gehört auf den Prüfstand. Wir müssen in diesen Tagen auch gezielt prüfen, ob die…“ „Sie wollen mal wieder den Soli abschaffen, richtig?“ „Nein, nur die Freibeträge erhöhen.“ „Also Sie wollen ihn gefühlt abschaffen. Schon klar.“ „Das ist doch jetzt, nach der geistig-politischen Einheit, eine Tat der Zeit, die sich fast wie eine Senkung…“ „Sie sollen dieses verdammte Wort nicht in den Mund nehmen!“ „… der Belastungen in den Haushalten der Bürgerinnen und Bürger in den alten und neuen Ländern unserer Bundesrepublik…“ „Schluss jetzt mit dem Gefasel! Sie wollen doch nur wieder Verschleiern, dass Sie nichts zu bieten haben.“ „Aber diese Entlastung wirkt sich unmittelbar auf die Mittelschicht aus. Und wir können sogar bei den kleinen Einkommen eine positive Wirkung sehen, die sich als Anreiz für mehr…“ „Wen genau halten Sie eigentlich für blöd? Die kleinen und mittleren Einkommen sind doch längst unterhalb dieser Freibeträge – in der unteren Hälfte ist das nichts anderes als einer der schmierigsten Versuche von Symbolpolitik, den Sie sich jemals geleistet haben, und in der oberen ist es wieder einmal ein hübsch verpacktes Geschenk an Besserverdienende.“ „Sie müssen aber zugeben, wir haben uns mit der Symbolwirkung diesmal ganz besonders viel Mühe gegeben – wer das nicht weiß, würde von alleine nie darauf kommen!“

„Dann sollten wir wieder zu den wichtigeren Fragen der Tagespolitik übergehen: es stehen in den kommenden Wochen einige Entscheidungen an, die die Eurokrise beeinflussen werden.“ „Da hätten wir auch noch eine Maßnahme. Und zwar sollten wir die Ermäßigung der steuerlichen…“ „Aus!“ „Ich meine, wir sollten eine Anpassung vornehmen bei den…“ „Ich hatte Ihnen gesagt, ich will das nicht mehr hören!“ „Aber der Bürger muss doch in seiner Daseinsvorsorge wieder mehr Sicherheit haben.“ „Und deshalb wählt er eine Heißluftmannschaft wie Ihre?“ „Es geht uns doch nicht primär um eine Absenkung der…“ „Fangen Sie schon wieder damit an?“ „Jetzt lassen Sie mich doch mal ausreden! Es liegt am – nicht unterbrechen! – Binnenkonsum, wir müssen dafür sorgen, dass wir eine gemeinsame Lösung erarbeiten.“ „Das hört sich fast an, als ob die Kanzlerin etwas damit zu tun hätte.“ „Es liegt ja im Grunde an den strukturellen Verfehlungen. Eine wirkliche Erleichterung für den Bürger kann es nur geben, wenn wir bei den Steuern…“ „Sie kriegen gleich an den Hals!“ „… einen Stufentarif einführen und damit die kalte Progression bekämpfen.“ „Sehr komisch.“ „Was finden Sie daran komisch? Wir sind auf einem guten Weg.“ „Fragt sich nur, wohin. Mit dem Stufentarif bewirken Sie nominell weniger als die rot-grüne Reform, und für die kleinen Einkommen ist der Anstieg des Steuersatzes sogar steiler – wieder nur eine Umverteilung von unten nach oben.“ „Das müssen wir in Kauf nehmen.“ „Und dann wollen Sie mit den Gewerkschaften neue Tarifverträge aushandeln?“ „Hatten wir nicht vor.“ „Aber Ihre Rechnung geht doch nur auf, wenn Löhne und Gehälter über den Inflationsausgleich hinaus steigen.“ „Das ist Sache der Wirtschaft, wir können schließlich der Wirtschaft nicht sagen, wie sie zu reagieren hat.“ „Sie kann also nicht?“ „Wie denn? Wir haben gerade Aufschwung, schauen Sie mal: so viele neue Jobs, so viele neue Gehälter, die gezahlt werden müssen, teilweise bekommen die Leute ja nicht einmal mehr Hartz IV nebenher, die Banken, der Bund, die allgemeine Unsicherheit, der Aufschwung ist einfach noch nicht in der Wirtschaft angekommen.“ „Was für ein Blödsinn.“ „Ja, nicht wahr? Und deshalb müssen wir jetzt einen Anreiz schaffen für die Wirtschaft, wenn sie wegen der geretteten Banken weniger Subventionen bekommt, dass sie die Löhne und Gehälter vielleicht doch erhöht.“ „Wie soll das denn bitte funktionieren? Dazu müsste die Wirtschaft ja höhere Gewinne machen.“ „Richtig – wir brauchen einen Anreiz für die Bürger, auch bei sinkenden Reallöhnen mehr zu arbeiten und die Dividenden zu steigern. Dann haben wir endlich eine Balance erreicht.“ „Und wie wollen Sie das schaffen? Womit wollen Sie den Bürger wieder hinter sich bringen?“ „Nun, ich dachte mir, dass wir durch Steuersenkungen… wo kommt das Messer her? Was wollen Sie mit dem… nehmen Sie das Messer weg, sonst… das Messer weg! Das Messer! Hilfe! Das…“





Europa (Fassung vorletzter Hand)

23 10 2011

für Erich Kästner

Und als die Verträge nach Jahren zuletzt
so weit waren, ließ man sie jagen
in Nacht und in Nebel durch das Parlament.
Dem Volk aber will’s keiner sagen.

Das Geld ließ man locker. Man brauchte es kaum.
Wer will schon Verantwortung tragen?
Es reichte, den Reichen die Gier zu verzeihn.
Das Volk darf am Hungertuch nagen.

Dann ließ man Soldaten, zunächst auf Papier
und dann existent Schlachten schlagen.
Das kostete freilich. Und schließlich kam’s hin.
Das Volk konnte nicht einmal klagen.

Doch dann lief es falsch. Es roch alles nach Krieg,
es ging ihnen fast an den Kragen.
Wie’s weitergeht, war ihnen völlig egal.
Man wollte sich damit nicht plagen.

Wir werden demnächst noch mal fragen.





In fünf Zeilen um die Welt. Limericks (LXIV)

22 10 2011

Gasporjan, der Zahnarzt in Goris
betrachtete skeptisch, wie Boris
ihn ansah – fast kinnlos,
zum Beißen ganz sinnlos.
Sein Urteil stand fest: dies war Vorbiss.

Herr Schrummel, ein Schreiner in Pitten,
verlegt sich beim Kunden aufs Bitten:
„Statt Schrankwand ein Kasten?“
Die Bretter, sie passten
nicht mehr. Schrummel hat sie verschnitten.

Früh morgens ging Sam aus Beylul
und legte ein Tuch auf den Stuhl,
weil Platz finden schwer ist –
und folglich macht er es
am Schreibtisch statt am Swimmingpool.

Susana hat in Santa Rita
ein kleines Hotel. Sieben Mieter.
Die kommen gelaufen
des Abends und kaufen
ihr Schnaps ab, pro Mann gut ein Liter.

Den Gupplinger störte in Leiben
im Hof jedes nächtliche Treiben.
Drum schrieb er aus Ahnung
ein Schild mit der Mahnung:
„Der Lärm hat jetzt zu unterbleiben!“

Klein Anuschawan in Nor Hatschn
ließ nie in der Schule das Ratschen,
was alle empörte
und den Lehrer störte.
Er gab ihm dafür manche Watschen.

Als Sportler aß Thinley in Haa
nur jene Kost, die er auch sah.
An Bohnen ihn störte,
dass man sie auch hörte.
Das bringt Bogenschützen Gefahr.