„Soll ich eine rote oder eine grüne oder eine gelbe nehmen?“ Hildegard hielt die Lichterketten in die Höhe. Mir schwirrte der Kopf. Was musste ich mit ihr auch den Weihnachtssupermarkt besuchen.
Eine Zeitungsanzeige hatte das Verhängnis bewirkt. „Sie verkaufen dieses Jahr schon im Oktober“, jubelte sie. Meine zaghafte Anmerkung, dass im vergangenen Jahr Rudis Schnäppchenhalde (vormals Brockensammlung Südwest, inzwischen Töllbeckers Kruschtcontainer) bereits im August die Pforten geöffnet hatte, Spekulatius und Stollen inklusive, ging in Hildegards festlicher Stimmung unter. „Wir werden uns diesmal rechtzeitig mit dem saisonalen Bedarf eindecken“, entschied sie, „dann brauchen wir in der Weihnachtszeit keinen Finger mehr zu rühren, können es uns jedes Wochenende gemütlich machen und haben vielleicht schon ein hübsches Geburtstagsgeschenk für meinen Vater.“ Dass sie seit Anbeginn unserer Bekanntschaft jedes Wochenende der Adventsperiode aus chronischer Aversion alleine zu Hause zuzubringen pflegte, ließ ich unkommentiert. Dafür machte ich sie gar nicht erst darauf aufmerksam, dass ihr Vater erst im April seinen Geburtstag zu feiern hatte. Man muss ja nicht immer alles komplizierter machen, als es ist.
„Jetzt stell Dich nicht so an!“ Gelangweilt schlich ich durch das Kaufhaus-Tiefgeschoss, das in langen Regalreihen mit allerlei Krimskrams, Firlefanz und Pofel vollgestopft war. Adventskranz reihte sich an Adventskranz, mit minimalem Unterschied: die einen waren aus Kunststoff, die anderen aus Plastik. Immergrün leuchtete es, in der Kopfnote zwischen Tankstelle und Laboratorium duftend, von einer mannshohen Pyramide aus Tannenbaumständern komplettiert. „Wir könnten doch eine tropffeste Tonschale nehmen“, schwärmte Hildegard und hielt ein besonders scheußliches Stück Steinzeug aus Polyurethan unter meine Nase. „Wozu eine Schale“, entgegnete ich apathisch, „Du hast doch schon zwölf Packungen Tannengrün in abwaschbarer Qualität im Wagen.“ „Und?“ Sie blitzte mich an. „Das ist spülmaschinenfest und schnell trocknend. Wo bekommt man denn heute noch Tanne mit diesen Produktfeatures? Aus Breschkes Garten jedenfalls nicht!“
„Darf ich Ihnen helfen?“ Wie aus dem Boden gewachsen stand der Verkäufer vor uns. Offenbar hatte man ihn in seinen Anzug gebügelt, das ölige Lächeln verhieß nichts Gutes. „Zeigen Sie uns bitte den Ausgang“, antwortete ich, „und wenn Sie freundlicherweise vorangehen würden?“ Er musste es überhört haben. „Hier haben wir eine entzückende Kuscheldecke mit Rentiermotiven, Polyester mit Acetatbeimischungen, waschbar bis dreißig Grad.“ Er entfaltete eine Puschelplane, die von asymmetrisch angeordneten Flecken übersät war. Vermutlich handelte es sich um das Rentier-Dekor. „Und wenn Sie hier einmal schauen möchten?“ Eine fast gleich aussehende Decke, laut Etikett Mikrofaser aus reinem Schurwollnerz, bereits in der Wolle mit gelb-braun-lila Herzchen bedruckt. „Die können Sie selbstverständlich auch waschen, sofern es sich um Dreißig-Grad-Wäsche handelt.“ „Und der Feudel da?“ Der Verkäufer hob ein angeschmutztes, flusiges Stück Stoff an. „Das bekommen Sie zum Sonderpreis – reine Webkante, mit Baumwolle vernähte Troddeln, rustikale Felloptik in den Querstreifen. Das muss man haben. Nicht nur für dreißig Grad, auch für die Kaltwäsche zu empfehlen.“ Hildegard beäugte das Textil. „Und das ist bei Ihnen Weihnachtsdekoration?“ „Sicher“, lächelte der Verkäufer. „Aber ich gebe Ihnen einen Tipp: wenn Sie bis Ostern warten, bekommen Sie zehn Prozent Rabatt!“
Einen Gang weiter lauerte eine Zuckerorgie. „Schokolade“, informierte mich Hildegard über das reihenweise aufgestellte Evidente, das sich in buntem Stanniol zur Armee der Weihnachtsmänner zusammengerottet hatte. „Vollmilch, Alpenmilch, Zartbitter, Edelbitter, Halbbitter, Bitter, Mokka und weiße Schokolade.“ „Ich nehme einen aus weißer Schokolade“, entschied ich. Hildegard zog eine Augenbraue in die Höhe. „Das war mir neu“, sagte sie erstaunt, „dass Du weiße Schokolade magst. Normalerweise isst Du doch nur Zartbitter.“ „Aus Umweltgründen“, erläuterte ich und griff nach einem der Nikoläuse, wie er feist und farbig mit seiner aufgedruckten Robe vor mir stand und seine aufgedruckte Rute schwang. „Aus Umweltgründen. Die weiße Schokolade reflektiert mehr Licht, wenn wir in der dunklen Adventszeit bei Kerzenschein sitzen. Zartbitter wäre nur mit Energiesparlampe zu erkennen, und eine Edelbitter mit hohem Kakaoanteil erfordert Halogenstrahler.“ Meine Gefährtin knirschte mit den Zähnen. „Ich für meinen Teil werde nicht auf Schokoladenfiguren verzichten, der Herr kann das gerne anders halten, wenn ihm danach sein sollte.“ Ein Arm voller Alpenrahm-Hohlkörper in zeitlosem Santa-Design unterstrich ihren Entschluss. Zur Beruhigung der Nerven schaufelte sie je ein halbes Dutzend Tafeln Rum-Trauben-Nuss, Noisette, Orangentrüffel und Erdbeerjoghurt hinterher.
Dergestalt mit Proviant ausgerüstet schwenkte Hildegard den Wagen im Bustrophedon herum und bog in die nächste Allee ein. „Engel“, stammelte sie. Das war keine Übertreibung; vor meinen Augen türmten sich Flügelfiguren, Goldengel, Silberengel, Glitzer- und Flitterengel, Rausch- und Flauschengel und Knautschengel, Engel aus Taiwan, Engel aus Neu-Gablonz, Engel aus England. „Wir brauchen unbedingt für die Fensterbank und für die Küche und das Arbeitszimmer“, stieß sie hervor. „Wir müssen hier mindestens. Und dann noch einen für. Und ins Bad! Und auf den Balkon! Die Garage!“ „Welche Garage“, fragte ich verstört. Aber sie war schon weiter. „Die da“, schrie sie, „haltet sie fest!“ Eine andere Weihnachtssüchtige hatte das Regal erklommen; mit affenartiger Gelenkigkeit hangelte sie sich an den Stellage hoch und klemmte sich ein Doppelpack Putten zwischen die Zähne – offenbar von den beiden verfetteten Blagen inspiriert, die sich unter Raffaels Madonna lümmeln. Schon war der Verkäufer zur Stelle. „Wir haben die noch im Lager“, schrie er und drückte Hildegard einen Karton Flügelbuben in die Hand. „Noch“, gurgelte sie, „mehr Engel! Mehr!“
„Dann wären das – Moment, Sie zahlen mit Karte?“ Nach einer kurzen Konsultation mit meinem Bankberater über alle gesetzlich zulässigen Finanzierungsmöglichkeiten entschieden wir uns gegen den Verkauf einer meiner Nieren und begannen den langen, schmerzvollen Prozess der Verhandlung über Ratenzahlung. Hildegard brachte zwei Mietshäuser ihrer älteren Schwester als Sicherheit ins Spiel, ihr Status als Beamtin gab der Erörterung eine nicht uninteressante Wendung. „Sie werden es nicht bereuen“, lächelte die Kassiererin und drückte den Kassenknopf. Die Sirene jaulte auf, Konfetti prasselte unvermittelt von der Decke. Zwei leicht übergewichtige Aushilfsstripperinnen in Gold – mutmaßlich die Nachfahren der Engelchen auf der Sixtina – stöckelten durch die Kassenschlange und setzten uns in Kenntnis, dass wir die einhunderttausendsten Kunden seien. Die Kassenkraft strahlte. „Sie haben einen Traumurlaub gewonnen! Zehn Tage Palmen in Santa Watumba, Vollpension im Ferienclub, Fünf-Sterne-Hotel und Flug erster Klasse – Ihre Luxusreise über die Weihnachtsfeiertage!“ Hildegard sah mich an; ich sah Hildegard an. „Entschuldigung, aber könnten wir dann diesen ganzen Mist stornieren?“
Satzspiegel