Ausklang mit Tanne

22 12 2011

Woher soll ich wissen, welches Du anziehen sollst? Bin ich Dein – natürlich bin ich es nicht, aber warum fragst Du mich jedes Mal? Sage ich: zieh das Rote an, dann – Ich weiß, Du hast es die letzten beiden Male schon getragen, aber das tut doch jetzt nichts zur… –

Wenn Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, es erkannt haben sollten, Hildegard ist noch in Begriff, die Koffer zu packen. Wie jedes Jahr um diese Zeit. Ausnahmsweise hatte sie es diesmal sogar extra – ja, Du hast es angekündigt, Anne und Breschkes saßen hier an diesem Tisch und… – Also sie fährt wie immer zu ihren Eltern, weshalb ich ja auch die Entenbrust für Weihnachten und den Wolfsbarsch… – Hör mal, was soll ich mit so viel Wolfsbarsch? Du isst kaum Fisch, außerdem wolltest Du ja – Gut, bin ich eben Schuld, dass Du zu Deiner Familie… –

Die Tür ist jedenfalls zu. Wo war ich? Richtig, beim Weihnachtsmenü. Hildegard hat sich wieder einmal furchtbar aufgeregt, dass ich sie nicht mit eingeplant hatte, und jetzt wird sie trotzdem über die Feiertage wegfahren. Vermutlich zur Strafe, weil ich sie nicht auf dem Küchenstuhl festbinde und vor den – ja also, der Weihnachtsbaum. Herr Breschke hatte da so eine Quelle. Eigentlich war’s ja wieder seine Tochter, die von ihren Urlaubsreisen lebensgefährlichen Elektroschrott mitbringt oder vollkommen ungenießbare Fischkonserven mit Haltbarkeitsdatum aus dem letzten Jahrtausend auftreibt. Regelmäßig schenkt der pensionierte Finanzbeamte mir ein Fläschchen hoch explosiven Fusel. Das Zeug ist nur zum Abbeizen oder als Pinselreiniger zu verwenden, aber er war wohl so angetan, dass ich ihm über Jahre schon immer zu Weihnachten eine von den Buddeln abnehme, dass er mir jetzt eine handgesägte Nordmanntanne, nadelfest, zum Vorzugspreis mitbringen wollte. Frei Haus. Seine Tochter kennt wohl den Oberförster. Das Gute ist, man kann gegen den Baum nichts sagen. Die obersten drei Meter sind auch gut in Schuss. Um die Mitte wird er etwas dünn. Aber davon werden wir einfach den Garten dekorieren. Und den Balkon. Und Annes Balkon. Und den Rest vom Stadtpark. Bei sechs Metern Tanne am Stück ist sicher genug Material vorhanden.

Ich glaube, die Geschichte mit Bismarck und den Weihnachtskugeln hatte ich noch gar nicht erzählt? Das hatte etwas mit sehr viel Getöse zu tun, als Herr Breschke nachts im Dunklen die Treppe herunterschlich und in einen Haufen Glaskugeln trat. Seine Frau hätte fast der Schlag getroffen.

Anne ist überraschenderweise in diesem Jahr nicht mit ihrem Max in den Schwarzwald gereist. Es ist nicht mehr ihr Max. Sie wird wahrscheinlich den Jahreswechsel bei ihm verbringen, schließlich ist sie eingeladen und wird ihre komplette Kanzlei bei dieser Gelegenheit sehen, aber es ist nicht mehr ihr Max. Gegen halb elf wird es am Heiligen Abend klingeln, diesmal wird der Champagner durch Krimsekt ersetzt, nur die belgische Schokolade ist in Krankenhausmengen vorrätig.

Wozu brauchst Du jetzt Moonboots? In den Dingern kannst Du nicht fahren, außerdem schneit es im Moment gar nicht. Sicher, es kann jeden Augenblick wieder anfangen, aber das wäre nun wirklich eine – Zufälle gibt es schon, das ist… – Neiu, ich würde keine Moonboots anziehen. Ich würde auch sonst nicht mit Deinem Auto fahren, aber in Moonboots schon gleich gar nicht. Ja, zieh die braunen Schnürstiefeletten an. Oder die schwarzen. Oder die braunen.

Staatsanwalt Husenkirchen und Gattin haben zugesagt, Sogar Doktor Klengel gibt sich die Ehre. Es wird in Bücklers Landgasthof eine durchaus illustre Gesellschaft sein. Bruno Bückler, den sie respektvoll als Fürst Bückler anreden, wird sich diesmal auf Reh und Perlhuhnbrüstchen stürzen und sein Bruder Hansi dazu einen 1994-er Bummelberger Klotzkopf kredenzen. Mein Großneffe Kester, der angehende Nobelpreisträger für Physik, wird auch ohne Bosonen hicksen, und Tante Elsbeth wird mit ihrem spröden Charme die Kellner verschrecken. Egal, es gibt Kaiserschoten.

Wozu brauchst Du jetzt eine Pinzette? Wo ist das reingefallen!? Meine Güte, Du zerlegst hier noch die ganze Wohnung! Jetzt warte, ich hole erstmal den Werkzeugkasten, und dann werden wir sehen, ob sich… – Nein, ich gehe auch davon aus, dass es kaputt ist, aber deshalb muss es ja trotzdem nicht im Innenleben meiner Küchengeräte… –

Freundliche Grüße von Siebels – der TV-Produzent ist seit wenigen Tagen auf Kreuzfahrt und spannt aus. Natürlich hatte er nicht widerstehen können und dreht nun halbtags 13 Folgen der Erfolgs-Seifenoper Schaumschiff. Aber man muss sich um ihn keine Sorgen machen. Solange er immer einen Becher Automatenkaffee hat und auf dem Oberdeck rauchen darf, treibt er höchstens den Kameramann, die Maskenbildnerin und seine Regieassistenz in den Wahnsinn.

Staubsaugen? Ich will doch um diese Tageszeit nicht staubsaugen. Ja, dann sag das doch gleich. Die ganze Schale? Wir haben’s ja. Gut gemacht, meine Liebe, das hätte ich nicht… – Die ganze Schale? Das heißt, auch das Glas ist… – Hast Du eigentlich eine Ahnung, was Murano kostet!? Jetzt rede Dich nicht raus, Du hast wieder alles im Regal umgestellt, und dabei – Stutzflügel? Wie kann einem der Flügeldeckel auf eine Schale fallen? Und wo, bitte, sind jetzt die Scherben von der… –

Gerade ruft Jonas an, er würde mir notfalls einen halben Festmeter Tanne abnehmen. Bei seiner künstlerischen Ader wird er das ganze Zeug vermutlich mit Sekundenkleber und einem Tacker in der Wohnung befestigen.

Ach, hier liegen noch die Papierschnipsel von gestern. Mein alter Freund Gernulf Olzheimer, der jeden Freitag einmal mit der kulturkritischen Axt die Kolumnen gerade richtet, war ausnehmend schlechter Laune. Was war der Mann in Brass! Jetzt haben sie ihm im Sauerländischen Samstagsblatt einen Schreibfehler nachzuweisen versucht, der noch nicht einmal einer war. Donnerwetter, der war in Fahrt! Ich konnte Olzheimer gerade noch beruhigen. Dieses Blättchen hat nämlich nur halb so viele Leser wie dies Blog. Ergo wird er sich im kommenden Jahr ganz auf die Bekloppten und Bescheuerten konzentrieren. Wir dürfen gespannt sein.

Wir andernorts schon geschrieben steht, es wird auch wieder neue Limericks geben. Und ansonsten habe ich schon eine kleine lyrische Sache in der Schreibtischschublade, aber das wird vorerst nicht verraten.

Woher soll ich wissen, ob Du alle Geschenke verpackt hast? Habe ich die etwa besorgt? Nein, aber Du hast mir gar nicht – Was in dieser Frau vorgeht, möchte ich gerne mal – Das Gelbe hast Du vorhin aus der kleinen Tasche in die große Tasche gepackt und dann wieder aus der großen Tasche in die… – Dabei fällt mir ein, ich wollte noch eben schnell Mandy Schwidarski von Trends & Friends anrufen, sie ist überraschend an einen Großauftrag gekommen. Im nächsten Jahr werden wir uns viel häufiger sehen. Hoffentlich behält Minnichkeit, ihre rechte Hand, einen kühlen Kopf. Der Travel-Experte Maxim checkt gerade die Locations in Padang Bai aus, you know, und sie alle werden vermutlich am 27. Dezember in der improvisierten Mittagspause bemerken, dass sie die Festtage versehentlich mit einem Dauermeeting verballert haben.

Das ist meins! Ja, steht doch drauf. Lies es doch bitte: Für meinen treuen Freund Miehlke. Doch, den kennst Du. Das ist dieser Schlanke mit ohne Haare. Agentur Partner Partner Friends & Partner. Was kann ich dafür, dass Dein Vater eins in genau demselben Geschenkpapier… – Eben nicht! Du hast nämlich das Geschenkpapier aus meinem Schreibtisch… – Gut, meinetwegen kann sie die Dinger auch vertauschen. Was ihr Herr Vater zu diesem abgrundtief hässlichen Polyester-Schlips aus der Tombola des Karnevalsvereins sagen wird, höre ich ja nicht. Vermutlich wäre er sogar angenehm überrascht, dass seine Tochter ihm mal ein nützliches… – Dann mach es halt auf, wenn Du nicht weißt, was drin ist. Meine Güte, ist es leicht oder schwer? rasselt es? ist es weich? Wenn es hart ist und rasselt und nur so groß wie eine Zigarettenschachtel, dann wird es sich ja wohl kaum um ein Paar Socken… –

Meinetwegen, dann können Männer eben nicht logisch denken. Ich kann’s ja auch nicht ändern. Annes Putzfrau, Tamara Asgatowna, ist der Ansicht, in diesen Haushalt gehörte sofort eine Frau. Sie kennt eben Hildegard nicht.

Die traditionelle Schachpartie am zweiten Festtag wird wieder hier sein. Eine Kanne Tee, dazu der eine oder andere Brandy, und ich werde mich mit Reinmar kräftig anschweigen. Er bevorzugt ja die halboffenen Spiele, ich habe ein Jahr lang Skandinavische Verteidigung geübt. Der Läufer wird entwickelt, und dann schneide ich ihm auf e6 den Rückzug ab. Falls ich es mir nicht doch noch anders überlege.

Und damit sind wir nun so weit: wie in den vergangenen Jahren ziehe ich mich heute in die Weihnachtspause zurück, lasse den Blogjahrgang Revue passieren – und am Mittwoch, den 4. Januar 2012, öffnen die Türen dieses kleinen satirischen Salons sich wieder allen Leserinnen und Lesern, den zufälligen, den täglichen, regelmäßigen und unregelmäßigen, die mit und ohne Kommentar kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, weil es ihnen gefällt. Ihnen wünsche ich, je nach Gusto, ein fröhliches, turbulentes, besinnliches, heiteres, genüssliches, entspanntes, friedvolles und ansonsten schönes Weihnachtsfest, einen guten Rutsch und ein gesundes, glückliches Neues Jahr.

Beste Grüße und Aufwiederlesen

bee





An Resten nichts Neues

21 12 2011

„Seicht soll er sein?“ „Und harmlos.“ „Dann scheidet Pofalla ja aus. Der ist nur seicht.“ „Und er muss wirklich doof sein.“ „Leute, jetzt aber mal ernsthaft. Weihnachten steht vor der Tür, und wir sollen hier den Bundespräsidenten finden.“ „Das ist Pofalla doch.“ „Wie, der neue Präsident?“ „Nee, aber wirklich doof.“

„Jetzt reißen Sie sich bitte mal am Riemen, wir müssen eine Personalentscheidung von höchster Tragweite vorbereiten.“ „Ach, quatschen Sie doch keine Opern hier – Mutti braucht mal wieder ’ne Handpuppe, was?“ „Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf!“ „Er hat doch Recht, was soll das denn noch?“ „Immerhin ist der Bundespräsident…“ „Jaja.“ „… einer der höchsten…“ „Wenn Sie mit dem Arbeitspensum in der Wirtschaft säßen, hätte Ihnen Roland Berger nach drei Tagen das Büro vernagelt und ihre Stelle durch drei vietnamesische Niedriglöhner ersetzt.“ „Wer sind denn die beiden anderen?“ „Wenn es danach ginge, können wir Westerwelle ruhig verheizen.“ „Wie kommen Sie auf die Schnapsidee?“ „Danach sind wir den wenigstens endgültig los.“

„Kollegen, ich appelliere nochmals an Ihre Vernunft!“ „Dann lassen Sie die Merkel aus dem Spiel.“ „Genau, die hatte doch schon immer eine recht merkwürdige Vorstellung von sich und dem Präsidentenamt.“ „Vor allem von sich, hähä!“ „Koch.“ „Was?“ „Roland Koch.“ „Sind Sie noch gang bei Trost!? den wählt doch keiner!“ „Hatten sie bei Wulff auch alle gesagt.“ „Aber der Mann ist doch ein lupenreiner Antidemokrat.“ „Das sind Henkel und Sarrazin auch, aber im Gegensatz zu Koch würden die keine Rechtspartei auf die Beine stellen können.“ „Und deshalb muss Merkel den abservieren?“ „Warum wurde Wulff Präsident?“ „Stimmt. Dann hätte sie nach zwei Fehlschüssen mit Schröder und Bouffier auch erst mal Ruhe von den Hessen.“ „Aber Henkel wäre eitel genug.“ „So eitel wie Wulff ja, ihm fehlt halt das Glamourgirl an seiner Seite.“

„Mal ’ne andere Perspektive: könnte nicht einer von den Stones das machen?“ „Das finde ich gut.“ „Wieso, was soll denn daran nun gut sein?“ „Weil sie dann der nächsten Auflage der Großen Koalition aus dem Weg ginge.“ „Und sie hat den Präsidenten, der ihr offiziell ans Bein pinkeln könnte.“ „Dann macht das Gabriel. Da gucken alle in die Röhre!“ „Vor allem die SPD.“ „Warum nicht Ulla Schmidt?“ „Wer?“ „Ulla Schmidt, absolut krisenfest. Die hat mit dem Dienstwagen schon genug geübt. Und die hatten wir so lange an der Backe, die paar Jahre als Präsidentin kriegen wir auch noch herum.“ „Hören Sie mal, wenn ich Sekundenkleber will, wähle ich Sauerland.“ „Oder die Bundesuschi.“ „Nee, die sitzt diesmal wieder auf der Planstelle für die beleidigte Leberwurst.“

„Meine Güte, das kann doch nicht so schwer sein!“ „Gottschalk?“ „Der braucht doch selbst einen Nachfolger.“ „Soll er hat Lindner nehmen.“ „Der ist auch blond, oder?“ „Ja, aber auch von innen.“ „Leute, ich will hier ein vernünftiges Brainstorming sehen!“ „Andrea Nahles?“ „Vernünftig!“ „Man könnte doch einen nehmen, der seine Inkompetenz auf mehr als einer Ebene unter Beweis gestellt hat.“ „Meinen Sie Oettinger oder Stoiber?“ „Ich konnte mich nicht zwischen Guttenberg und Koch-Mehrin entscheiden.“ „Dann doch schon lieber Mappus. Da sitzt das Volk wenigstens nie auf dem Trockenen.“ „Leute!“ „Warum müssen wir denn den überhaupt ersetzen? Haben wir nichts Besseres zu tun so kurz vor den Feiertagen?“ „Stimmt. Eigentlich müsste die Merkel schon darüber nachgedacht haben…“ „Hähä!“ „Guter Witz, Kollege, sehr guter Witz!“ „… warum Sie noch vor ein paar Tagen gesagt hat, dass Wulff eine hervorragende Arbeit macht.“ „Die eine Möglichkeit ist, dass sie ihn für seine Strampelei lobt. Er ist ja schließlich Präsident von der Kanzlerin Gnaden.“ „Weil ihr egal ist, wer unter ihr Staatsoberhaupt wird?“ „Die andere Möglichkeit wäre dann wohl, dass sie ihn sowieso erst wegen seiner demolierten Moralvorstellungen gekauft hatte?“ „Liegt nahe.“ „Eben, und deshalb wird er jetzt auch gestützt, bis der Staatsanwalt durchlädt.“ „Und das ist erheblich?“ „Hören Sie mal, der Bundespräsident hat ihr vollstes Vertrauen. Das reicht für mehr als ein politisches Todesurteil.“

„Wenn die Banken alles kontrollieren wollen, warum machen wir nicht gleich Ackermann zum Präsidenten?“ „Weil der Mann Schweizer ist?“ „Nee, aber er hatte wohl Geschäftsbeziehungen zu Maschmeyer.“ „Kollegen, bitte! Das kann doch nicht so weitergehen.“ „Seibert wäre auch noch da.“ „Der Mann ist doch völlig inkompetent.“ „Kann aber perfekt die Seiten wechseln.“ „Verdammt, es wird doch wohl noch geistige Größen in der deutschen Politik geben, die sich als Präsidenten eignen!“ „Lebt eigentlich Geißler noch?“ „Das müsste Lafontaine wissen.“ „Hat Köhler nicht noch vier Jahre über?“ „Wir bräuchten da einen, der echt authentisch für die CDU ist – richtig konservativ und mit Machtbewusstsein.“ „Am besten einen, der auch politische Erfahrung in der Wendezeit hatte wie Gauck.“ „Einen, der sich alles erlaubt hat.“ „Die Typen hatten doch eh was mit Schwarzgeld an der Backe.“ „Scheißegal.“ „Eben, die brauchen die öffentliche Anerkennung, auch wenn sie nie etwas Vernünftiges getan haben.“ „Stehen die über dem Grundgesetz?“ „Besser. Die liegen meilenweit drunter.“ „Rollstuhl stört nicht?“ „Ach was, das geht doch locker.“ „Dann ist es ja klar. Beckmann, Sie rufen dann bitte diskret an. Herr Doktor Kohl soll sich auf keinen Fall unter Druck gesetzt fühlen.“





Echt jetzt

20 12 2011

„Lass mich endlich in Ruhe, doofe Kuh!“ Die junge Mutter war außer sich vor Zorn „Leon-Balthasar“, fauchte sie, „wie oft habe ich Dir gesagt, dass Du Dein natriumarmes Wasser austrinken sollst! Wenn Du jetzt nicht artig bist, kommst Du nicht in den Golfverein und musst mit Kindern von Arbeitslosen spielen!“ Siebels nuckelte an seinem Plastikkaffee. „Großartig“, murmelte er. „Die Alte ist wirklich fantastisch. Das Scheißbalg auch. Großartig. Man möchte auf der Stelle kotzen.“

Die Maskenbildnerin puderte die Dreißigjährige ab und richtete ihr ein paar Stirnfransen mit einigen Stößen aus der Sprayflasche. Der Regieassistent gestikulierte wild. „So von hinten“, markierte er, „dann können Sie ihm den Arm auf den Rücken drehen. Das sieht unheimlich schmerzhaft aus, ist es aber nicht, wenn das Opfer eingeweiht ist.“ „Kenn ich“, brüstete sich das Kind. „Hatten wir in der letzten Serie. Da hab ich voll eins in die Fresse gekriegt von meiner Mutter. Die spielt heute hier die Jugendstaatsanwältin.“ Der Regieassistent blätterte unschlüssig das Skript durch. „Davon weiß ich gar nichts. Haben wir eventuell das Drehbuch für diese Folge geändert?“ Siebels war unbemerkt dazugetreten. „Die Staatsanwältin haben wir zur Vorsicht, und dann schauen wir mal, wie sich die Episode entwickelt. Wenn er in dem Konflikt mit seinem Vater wirklich gut rüberkommt, können wir ihn das Auto in die Luft jagen lassen. Da wäre dann automatisch die Polizei mit im Spiel, weil es einen schwerverletzten Passanten gibt, und dann wird er ins Erziehungsheim gesteckt.“

Und schon lief das muntere Treiben weiter. „Sagen Sie mal“, fragte ich den TV-Erfinder, „übertreiben Sie es nicht ein bisschen mit Ihrer geskripteten Realität?“ Er blickte mich mit einer Mischung aus Langeweile und Erstaunen an. „Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz – war das etwa ernst gemeint?“ „Natürlich. Ein Drittel der Zuschauer ist der Überzeugung, dass es sich bei dem Schmodder um nichts als die abgefilmte Wahrheit handelt.“ Er grinste. „Sehr gut, zumindest für den Sender. Genau das Publikum ist doch das Rückgrat eines typischen Prekariatsprogramms. Wer diesen billig gestrickten Sozialporno für bare Münze nimmt, ist auch der ideale Werbekunde. Die fragen nicht nach, was die Werbung ihnen sagt, muss stimmen, sonst wäre es ja nicht im Fernsehen.“ „Das Medium ist die Botschaft“, seufzte ich. „Ganz recht“, tröstete er mich. „Aber nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, es stimmt mehr, als Sie bisher angenommen hatten. Und es ist gar nicht einmal so schlecht.“

Die Mutter hatte nun Verstärkung von einem sichtlich genervten Gatten bekommen. Er war noch nicht ganz zur Tür herein und bekam schon einen Wutanfall. „Was heißt hier Sitzenbleiben“, tobte er. „Hast Du dem Anwalt schon gesagt, dass er den Klassenlehrer fertigmachen soll? und den Direktor? und das Schulamt weiß auch noch nicht Bescheid? Was mache ich hier eigentlich den ganzen Tag?“ „Du arbeitest“, versuchte es seine Frau schüchtern. Da explodierte er. „Richtig, ich arbeite!“ Fast fegte er mit seinem Gefuchtel die westafrikanischen Skulpturen (zweifelsohne billige Replikate, die Originale hätte man nach dem Diebstahl in einen Safe gepackt, aber sicher nicht in eine Bauhaus-Schrankwand mit Halogenstrahlern) „Ich arbeite, während Du Dir hier mit Deinem Sohn, dem Sitzenbleiber, einen schönen Tag machst! Wenn Du keine Lust mehr auf mein Geld hast, dann sag es doch einfach!“ „Echt jetzt, Ihr seid alle beide doof“, verkündete der Halbwüchsige, marschierte in die Küche und öffnete eine Limonadenflasche. „Leon-Balthasar“, ließ sich der hysterische Muttersopran vernehmen, „keine Limonade! Ich will nicht, dass Du Limonade trinkst!“ „Dann kauf das Scheißzeug doch nicht“, brüllte der Junge zurück. „Du trinkst nur Gin, weil der wie Mineralwasser aussieht, Papa trinkt nur Bier und Kaffee, um nicht mit einer Bierfahne ins Büro zu kommen, und Du schmeißt jede Limo weg, sobald ich sie angebrochen habe.“

„Lassen Sie mich raten.“ Siebels blickte mich belustigt an. „Was wollen Sie denn raten? Wer hier als erster die Nerven verliert?“ „Nein, ich frage mich nur nach Ihrer Intention.“ Der altgediente Fernsehmacher lächelte. „Was vermuten Sie denn? dass ich diese elitären Schnösel als Feindbild aufbaue?“ „So in etwa“, bestätigte ich. „Allerdings wüsste ich nicht, warum das nun sonderlich toll sein sollte. Was ist denn nun neu? Haben Sie etwa heimlich arbeitslose Kleindarsteller angeheuert, um dieses Millionärspack zu spielen?“ „Besser.“ Siebels grinste von einem Ohr zum anderen. „Viel besser. Es ist gar nicht gespielt. Es ist ein Skript, aber durchaus Realität.“ Die Mutter schwankte schon gefährlich. Der Regieassistent reichte ihr einen Flachmann. „Die säuft ja echt“, stieß ich hervor. Siebels kicherte. „Warum sollte sie auch nicht saufen, schließlich ist die Frau schwer alkoholabhängig. Nennen Sie’s Method Acting. Auf jeden Fall sind das drei stinkreiche Sozialfälle, die ihr beschissenes Leben vorführen. Die Politik, vor allem die Sozialpolitik entwirft ihre hirnrissigen Konzepte ja vorwiegend anhand dieser Sendungen, mehr sehen sie nicht von der Realität. Warum sollten sie also nicht auch mal über die sogenannte Elite aufgeklärt werden?“ „Man muss es glauben, und wenn man es besser wissen sollte, dann glaubt man es erst recht?“ Er nickte. „Und dafür sorgt das Format. Und da alles, was im Fernsehen ist, der Wahrheit entspricht…“ Er nippte am Kaffee. „Das Medium ist die Botschaft. Und jeder Widerstand ist zwecklos.“





Leichte Kavallerie

19 12 2011

„Sie, ich kann da gar nichts machen. Wir sind hier weisungsgebunden. Das kommt erschwerend zum Standort Bayern hinzu. Sie müssten sich dann schon mit einem konkreten Tatverdacht an die zuständige Behörde wenden, sonst sind uns leider die Hände gebunden. Mollath? Nein, da kann ich nichts für Sie tun. Wir sind hier ja nicht in Hessen.

Wir haben das ja damals nicht geprüft, weil wir da noch nicht wussten, ob da etwas rauskommen, könnte. Später? da mussten wir ja erstmal prüfen, ob wir damals nicht hätten prüfen müssen, ob es etwas zum Prüfen gibt, aber da wir vorher ja nichts geprüft – haben Sie’s? Nicht?

Das Problem mit diesen pauschal geäußerten Verdächtigungen haben wir immer wieder. Sie, ich kann doch nicht bei jedem Verdacht gleich die ganze Polizei losschicken. Wenn Sie einen Verdacht haben, könnten Sie da nicht gleich selbst ein paar Erkundigungen einziehen? Nein, Das war jetzt nicht konkret auf den Fall bezogen. Deutsche Banken irren sich nicht, höchstens um ein paar Milliarden. Und wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihre Bank Schwarzgeld verschiebt, dann wechseln Sie halt zu einer anderen. Wir leben schließlich in einer freien Marktwirtschaft. Bestellen Sie das mal Ihrem Herrn Mollath, ja?

Wir haben hier seit Jahren solche Fälle, wissen Sie. Das nimmt überhand. Neulich hatten wir einen, der behauptet steif und fest, die Bundesrepublik Deutschland sei ein Rechtsstaat. Glücklicherweise konnten wir den noch rechtzeitig aus dem Verkehr ziehen, sonst wäre der damit noch an die Presse gegangen. Unvorstellbar. Das muss am Standort liegen. Die Forensische Psychiatrie Bayreuth kennt sich scheint’s mit Promotionsverfahren besser aus.

Steuerhinterziehung? Kommt meines Wissens in diesen Gesellschaftsschichten nicht vor. Ab einem bestimmten Jahreseinkommen zahlt man in Deutschland keine Steuern mehr, da gibt’s auch nichts zu hinterziehen. Die Bank? Hören Sie mir mal zu, das ist eine deutsche Bank, da werden keine Steuern hinterzogen. Wenn Sie nach kriminellen Elementen suchen, dann fahren Sie gefälligst in die Schweiz.

Ich weiß gar nicht, warum Sie sich hier so künstlich aufregen – das Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland ist doch ganz einfach. Wenn Sie schuldig werden, stehen Sie vor Gericht. Und wenn Sie nichts getan haben oder wir es Ihnen nicht nachweisen wollen, dann kommen Sie nicht vor Gericht. Warum soll das bitte falsch sein? Was haben denn Sie daran jetzt nicht verstanden? Wenn Sie vor Gericht stehen, sind Sie schuldig. Wenn Sie unschuldig wären, würde man Sie ja nicht einfach so vor Gericht stellen. Wir sind derart überlastet, wir könnten ja gar nicht jeden Unschuldigen hier einfach so vor Gericht… –

Warum sollen wir denn da jetzt noch ermitteln? Die Bank hat doch die Frau schon rausgeschmissen, oder irre ich mich da? Eben, also ist doch alles in Ordnung? Nein, da kann ich als Staatsanwalt schon gar nichts unternehmen. Warum, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hatten doch nichts ergeben, weil wir da gar nicht ermittelt haben. Aber wir wussten doch vorher noch gar nicht, ob wir überhaupt etwas finden würden, warum sollten wir dann mit den Ermittlungen überhaupt anfangen? Das heißt gar nichts. Das bedeutet nur, dass die Frau unschuldig ist, weil sie bis jetzt nicht vor Gericht… hören Sie mir überhaupt zu? Wir sind hier doch nicht bei der leichten Kavallerie!

Der Gutachter kennt sich damit aus. Wir haben extra einen bestellt, der auch einen – Dachschaden? Nein, das war komplizierter in der Akte. Der Staatsanwalt hat es nicht ganz verstanden, also muss es wichtig gewesen sein. Und wenn sich so ein Angeklagter einbildet, er sei gar nicht verrückt, dann muss er ja auch erst recht in die Anstalt. Weil, wenn er da drinnen ist, dann hat das schon seinen Grund, sonst säße er ja nicht drin, verstehen Sie? Das ist wie mit dem Recht. Ich bin zwar nur ein ganz normaler Staatsanwalt, aber so viel weiß ich doch: die, die sich selbst nicht für verrückt halten, und die deshalb in die Klapsmühle kommen, das sind die Gefährlichen. Und wenn dann einer immer noch so tut, er sei völlig normal, und wenn die Zeugen meinen, der Gutachter hätte vielleicht den Abgeklagten doch besser selbst… –

Ach, hier wird jetzt schon ermittelt? Weiß das Ihr Herr Mollath? Wir wissen davon nämlich nichts. Wir sollten sehr vorsichtig damit sein, irgendwelche Untersuchungen anzustellen, was da in der Bank abgelaufen ist. Das mit dem Rechtsstaat – wir als Staatsanwälte sind, wie gesagt, weisungsgebunden. Erst dann, wenn die Justizministerin der Meinung ist, dass hier alles mit rechten Dingen zugegangen ist, ermitteln wir noch einmal. Weil das dann ja nur gut ausgehen kann, weil wir dann nicht eigentlich gar mehr zu prüfen bräuchten, ob wir da nicht noch einmal ermitteln müssten, weil wir dann nämlich schon wissen, dass das nicht nötig wäre, aber dann kann man ja noch einmal ermitteln, oder? Richtig, das können Sie Ihrem Herrn Mollath gerne sagen. Wir sind hier zwar in Bayern, aber deshalb ist das trotzdem immer noch ein Rechtsstaat.

Ich? warum denn ich? Aber ich doch schließlich weisungsgebunden. Eine Wiederaufnahme? Ich bin doch nicht bescheuert!“





Krippenspiel

18 12 2011

„Oh sieh, oh sieh! wie hier im Stall
zu Bethlehem zur halben Nacht
ein Stückchen Nutzvieh, rund und drall,
der Bauerninnung Freude macht!
Das Tierchen zerrt und scharrt und brüllt,
ist pharmazeutisch gut versorgt,
der Lobby hübsch die Kassen füllt,
die’s ihrem Tierarzt gerne borgt.
Ach sieh, das Tier ist feist und keck,
steht bis zum Knie im eignen Dreck,
das Fleisch gibt es auf Krankenschein.“
„Das wird, mein Kind, der Ochse sein.“

„Ach schau, ach schau! die Bauern sind
vom Feld geeilt. Da liegen sie
so hingestreckt mit Weib und Kind,
gar lustig, denn sie schaffen nie.
Ein lieber Vater Staat ernährt
mit Trank sie, Geld und Gut und Speis,
nur leise, dass man’s nicht erfährt!
Dass niemand aus dem Volk es weiß!
Sie reden, und was ihnen quillt
heraus, die Scheun und Ställe füllt.
Darauf sie schlummern fest und fein.“
„Das wird, mein Kind, viel Stroh wohl sein.“

„Au weh, au weh! es tönt so grell,
es paukt und trombt die Engelschar,
dass mir das arme Trommelfell
vor lauter Krach erschüttert war!
Es blinkt und funkelt, scheußlich schön,
dass uns entgeht, ein Kindlein ist
in dieser Hütte nicht zu sehn.
Nur Ochs und Kuh und lauter Mist.
Für wen war diese heil’ge Nacht
mit Sang und Krach und Klang gedacht?
Wem fiel dies Durcheinander ein?“
„Du wirst, mein Kind, der Esel sein.“





In fünf Zeilen um die Welt. Limericks (LXXII)

17 12 2011

Als Nelly den Rock sah in Nisse,
fragt sie, ob der Stoff wohl verschlisse –
sie wollt ihn nicht tragen,
sie schob voll Verzagen
den Nutzungsgrad ins Ungewisse.

Der Stoffel, der joggte in Lauffen,
und kam nach Minuten ins Schnaufen,
was keinen mehr störte.
Sofort danach hörte
und sah man’s. Er saß schon beim Saufen.

Als man Rijker sah, der in Ede
zwei Damen ansprach, gab’s Gerede.
Das Ärgernis macht sich,
denn er war schon achtzig –
und trotzdem nahm ihn einfach jede.

Es schloss Reza ab in Malayer
die Autoversicherung. Teuer
sind Unfall und Diebstahl,
das tat er nur einmal.
Er arbeitete jetzt mit Feuer.

Ins Fernsehn ging Kingu in Dowa
und war auch ganz pünktlich zur Show da,
da kam in dem Rummel
das Magengegrummel.
Ihn kümmerte nur, wo das Klo war.

Palina schlug züchtig in Lida
beim Tanzen die Augen fein nieder.
Aljaksej, der nahm sie,
doch dafür bekam sie
nicht seine drei hübscheren Brüder.

Wenn Kees seinem Nachbarn in Zeist
die Scheiben mit Kieseln beschmeißt,
dann ist gar nicht keck er,
er ist nur der Wecker,
denn den überhört der zumeist.





Gernulf Olzheimer kommentiert (CXXXII): Börsenanalysten

16 12 2011
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Natürlich wurden die geistigen Gaben auf diesem Planeten nicht gleichmäßig verteilt, aber der Durschnitt soll ja die Qualität einer Gesellschaft bestimmen. Schiebt der Normalbürger Hyperaktive menschenfreundlich in die Castingshow ab und entsorgt Profilneurotiker in der FDP, so hat er bei den anderen Flusenlutschern ein echtes Problem. Irgendwann glaubt auch bei den Neonazis keiner mehr, dass das rapide Wachstum aus ungezügelter Vermehrung von V-Leuten kommt, und da keinerlei Sozialplan den sprunghaften Anstieg der Narren in der Fußgängerzone abfedert, muss es eine andere Lösung geben. Vorerst durften sie als Quacksalber auf dem Jahrmarkt Gaukelwerk treiben, in die Glaskugel schielen, bis die Spanische Inquisition ihnen die Tür eintritt, und die Aufklärung abwarten, die ihnen endgültig den Garaus macht. Doch das Glück währte nicht ewig. Heute haben wir die Bagage wieder am Hals. Als Börsenanalysten.

Gerüchten zufolge gibt es Richter, die bei einem Fall von Totschlag, dem das endlose Salbadern eines DAX-Predigers vorangegangen war, auf Durchzug schalten und gleich zum nächsten Fall überleiten. Wie Hautausschlag am Sitzmuskel und Zeugenbesuch in der Mittagspause gehören die Schwurbelgurken zu den Zores, die zwar jeden schon in die Nähe einer Embolie getrieben haben, die aber keiner zugibt – wie Fußpilz oder Wettschulden, die man erst in der Autobiografie beichtet, aber nicht am Ort der Konfrontation. Sie sind der halbwegs erfolgreiche Versuch, die Welt der schachernden Geschäfte an den Esstisch zu beamen, um zu zeigen: die Börse ist immer und überall. Börsenanalysten sind die Berufsirren, die keine Peinlichkeit scheuen, die Welt davon zu versichern, dass sie auch für ihr niederschwellig angelegtes Berufsbild keinen Kompetenznachweis zu erbringen geeignet sind, plärrende Lautsprecher der Kapitalmedien, die sie nun mal darstellen. Kein Bekloppter käme jemals auf den Gedanken, einen Analphabeten im Live-Programm mit einer Kafka-Interpretation auf die brechreizbereite Menschheit loszulassen; bei volkswirtschaftlichen Capricen scheint’s geht die Sache etwas glatter.

Denn tatsächlich sind sie lediglich Vollidioten, die Hirnplüsch absondern über Dinge, die sie nicht verstehen, für eine Schicht degenerierter Deppen, die sich den Müll gar nicht erst ansehen, weil sie genau wissen, dass sie vom Kapitalmarkt keinen Schimmer haben. Das Volk der Kleinanleger, das selten zwischen Equity Swap und Scalping zu unterscheiden weiß, weil es alles glaubt, was man ihm in die Gehörgänge schwiemelt, fühlt sich in seiner grenzenlosen Doofheit nur um so mehr den frei in der Fauna herumdelirierenden Popelpriestern verbunden: wenn er schon die Zäpfchen vibrieren lässt, wo keiner Ahnung hat, dann muss er ja einer von uns sein. Eins gesoffen, eins gekauft.

Der Rest der wehrlosen Zeitungsleser jedoch ist das Heer der Leidtragenden, die sich den Mist Tag für Tag in die Netzhaut peikern müssen: dass ein Anschlag, je nachdem, ob von Separatisten, Nazis oder gelangweiltem BKA-Führungspersonal, je nach Bauart den Leitzins nach oben oder unten verdellt, während die Freisetzung ganzer Landstriche insolventen Unternehmen vor dem Hanfseil rettet. Platitudengesättigtes Verbalglutamat rammt der Querkämmer aus der Telebörse dem Zuschauer in die Hirnrinde, die Kollateralmaden der Krise verbreiten ihren Sums, als würde durch perennierende Wiederholung das kleine Einmaleins eine heilige Wahrheit. Eine Herde in indiskutabel verschnittenes Polyester eingenähter Schranzen quakt aus der Bildröhre, dass alle ihre Meldungen vom Vortag auf falschen Annahmen beruht hatten, und blökt frei in der Gegend herum, ohne auch nur unfallfrei erklären zu können, wie Kerninflation funktioniert. Meistens sind sie sowieso seit gestern überrascht, dass es heute so weit kommen konnte.

Vermutlich hat man Börsenanalysten nur die Wünschelrute weggenommen. So stolpern sie zwischen leichtgläubigen Volleulen herum und schwatzen ihnen Aktien auf, die sie nicht verstehen – der verlängerte Arm der Wertpapierabteilungen in den Banken, die allesamt zu feige sind, ihre Inkompetenz selbst vor die Kameras zu schieben. Für eine Chartanalyse reicht ein Stück Pappe und ein Satz Wurfpfeile. Wer wirklich nur dem Zufall vertraut, der nicht durch die besserwisserische Arroganz der BWL-Versager gestört wird, hockt Schimpansen vor die Dartscheibe, die Primaten sind signifikant treffsicherer, weil sie keine pseudowissenschaftlichen Erklärungen abliefern, was sie gerade getroffen haben. Ihre fachliche Qualifikation brüllt aus der streng wissenschaftlich formulierten Schlussfolgerung, dass nur hektisches Verkaufen die Wirtschaft retten kann – während die andere Hälfte der Kleingeldzähler behauptet, nur mit Halten und Vergraben der Aktien sei eine Katastrophe noch abzuwenden. Sie mögen ihre Spitzhüte mit den Sternchen gegen die für Kalkhirne optimierte Sulzabsonderung getauscht haben, aber solange sie jeden Schrott ungehindert in die Höhe jubeln können, leben wir mit dem linken Rand der IQ-Kurve unter einem Dach. Es wird Zeit, dass wir die Trümmertruppe ins gesellschaftliche Aus jagen. Denn warum sollte einer, Politiker immer ausgenommen, für die zielgerichtete Vernichtung des Volksvermögens unter simultaner Produktion paranoider Grütze, die sauer verdiente Kohle aus unseren Sparstrümpfen kassieren? Börsenanalysten sind das letzte Mittel des Kapitalismus, um auch den letzten Angestellten zwangsweise zum Komplizen zu deklarieren und ihn mit Instant-Weihrauch einzunebeln. Sie sind so glaubwürdig wie die Internet-Milliardäre, die neben dem Geldscheffeln immer noch sechzehn Stunden lang täglich damit zubringen, jedem zu erzählen, wie man todsicher reich wird, reicher als alle anderen, die das auch zu lesen bekommen. Und warum sollte man ihnen über den Weg trauen, wenn sich diese stammenden Versager nicht einmal ordentliche Anzüge leisten können.





Futsch

15 12 2011

„… noch nicht genau sagen, wie es dazu kommen konnte. Bisher gilt nur als gesichert, dass die FDP als nicht mehr existent…“

„… verstörenden Momenten innerhalb von INSM und Versicherungskonzernen, da man seit Jahren nicht mehr wusste, wohin man die Spenden zu überweisen hatte. Henkel betonte, er werde sich notfalls eine Partei suchen, die an der Spitze ohne einen Fremdarbeiter die nötige…“

„… sich die Taxifahrer nach wenigen Stunden nicht mehr erinnerten, wo die Parteizentrale gestanden hatte. Berlin gewann damit den Preis der aktuellsten Hauptstadt Europas, die noch vor…“

„… des Stromverbrauchs, der nach einer FDP-Regelung den Privathaushalten angerechnet, aber von der Großindustrie verursacht würde. Das Gremium befand, die liberale Partei sei sowieso längst vom Netz und daher nicht mehr als…“

„… keine Bestätigung für das Gerücht, die FDP sei aus Jugendschutzgründen gesperrt worden. Alle Beteiligten erklärten nochmals, die Parteispitze sei dem Augenschein nach bereits volljährig und…“

„… sich nach einer Straßenumfrage bereits weniger als ein Drittel der potenziellen Wähler der Liberalen überhaupt an die Existenz der Partei…“

„… nicht zu Schwarzen Löchern führte, da sich die Materie der Liberalen lange vor ihrer Auflösung als nicht mehr liberal abgespalten und in Richtung Grüne bewegt…“

„… verneinte vehement Gerüchte über die die Fusion der Freidemokraten mit anderen Parteien. In der schriftlichen Fassung gab der Generalsekretär an, dass sich keine andere Organisation, auch nicht auf Nachfrage oder zu hohen bis sehr hohen Beträgen, bereitgefunden hätte, eine solche…“

„… bot der Spitzenpolitiker an, seinen westlichen Freunden mit einigen Handreichungen wieder den erhofften Einfluss zu verschaffen. Eine Wahlbeteiligung von 236 Prozent sei der Garant für objektive und faire Verhältnisse im Streit um den Euro-Rettungsschirm. Putin versprach, sich als…“

„… Stabilität der Börsenwerte vollkommen unbeeinflusst. Aus gut unterrichteten Kreisen wurde berichtet, Bundeskanzlerin Merkel sei bereits nach wenigen Tagen von ihren Mitarbeitern in Kenntnis gesetzt worden, habe aber nicht reagiert. Bisher ist nicht geklärt, ob dies ein Anzeichen des bisherigen Regierungsstils vollständiger Realitätsverleugnung oder die Fortsetzung ihrer innerkoalitionären…“

„… nicht mehr gerechtfertigt, die Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung sei nur bis zum ersten Drittel für eine Aufarbeitung der zeitgeschichtlichen…“

„… als großer Erfolg zu werten. Die Ex-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger bezeichnete das Verschwinden der Partei von der Bildfläche als Sieg für die freie Marktwirtschaft, untaugliche und nicht mehr benötigte Unternehmen würden auf Dauer verschwinden. Sie setze wie üblich auf einen Rettungsschirm, um die Parteifinanzen zu…“

„… Hoffnung auf die Entdeckung des Higgs-Bosons machte. Der Leiter des Instituts erläuterte die Grundeigenschaften damit, dass das Teilchen zwar neben den Fermionen nicht allein für die Masse zuständig sei, jedoch größer als die FDP…“

„… laut Rösler zur Auflösung nur gekommen war, weil Lindner und Bahr in unverantwortlicher Weise ihre eigenen…“

„… nicht mehr gekommen. Das ZDF nahm davon Abstand, die Einpersonenband Die Fanatischen Drei mit ihrem noch nicht veröffentlichten Titel Sie ist weg in…“

„… keine Chance, Margot Käßmann für eine weitere Aktion zu gewinnen. Brüderle lehnte ab, da eine Mitleidsnummer mit ihm bereits an der Menge des verträglichen Alkohols zum Scheitern…“

„… wurde Westerwelles letztes Angebot, seinen Schneid in einer Online-Auktion versteigern zu lassen, als überflüssige…“

„… keine Möglichkeit, die FDP nach der Abwicklung wieder als Apothekerzweckverband…“

„… bis zum Jahresende zu liefern. Die Stiftung Warentest stellte laut vorab veröffentlichten Informationen fest, dass weder gesagt wurde, was, noch wann, und welcher Art von wem zu liefern…“

„… erklärte Lindner, ohne die eigenmächtigen Aktionen von Bahr und Rösler hätte die Partei…“

„… wenigstens froh, dass sich die Partei zu Lebzeiten für die klare Regelung der Organspende ausgesprochen hatte. Dennoch sah es angesichts des fortgeschrittenen Verwesungsstadiums sowie der geringen Dichte an funktionsfähigen Hirnzellen nicht nach einer erfolgreichen Integration…“

„… zu weiteren Streitigkeiten, da der fusionierte Arzt- und Apothekerclub in der FDP-Nachfolge sich strikt weigerte, die Juristen als vollwertige Mitglieder in die…“

„… betonte Bahr, seinen Lebensunterhalt nie durch arbeitsähnliche Tätigkeiten hätte bestreiten zu müssen, wenn Rösler und Lindner die FDP…“

„… erschwert wurde, da Guido Westerwelle spurlos verschwunden ist. Nach wenigen Wochen der Erleichterung bemerkte der Hausmeister des AA, dass der Geräuschpegel sich merklich…“

„… nur ein bedauerliches Versehen. Lindner habe die Aussage, Guttenberg sei viel zu schnell in der Versenkung verschwunden und als Volldepp der Nation wieder aufgetaucht, als Kampfansage verstanden und alles daran gesetzt, noch viel schneller ab- und aufzutauchen und als noch sehr viel größerer…“





Schuldikulti

14 12 2011

„Wenn Sie mich fragen, wir können uns diese Parallelgesellschaft nicht mehr länger leisten. Das macht doch auf Dauer unser Land kaputt.“ „Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung.“ „Das geht doch nicht mehr an, dass diese Leute hier mit ihren eigenen Moralvorstellungen…“ „Sagten Sie: Moral? Dass ich nicht lache!“ „Also das sollten wir ja als gute Demokraten schon noch im Auge behalten, Menschen sind wir alle. Aber das ist es dann auch schon, mehr Gemeinsamkeiten sehe ich da nämlich keine.“ „Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung.“ „Und ich finde, wir sollten hier als die Mehrheit dieser Gesellschaft endlich mal eine klare Botschaft aussenden – bis hierhin, aber auf gar keinen Fall einen Schritt weiter!“ „Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung.“ „Und ich finde auch nicht, dass das jetzt irgendwie undemokratisch ist – die gehören nicht zu uns! Die gehören nicht zu uns, weil die noch nie zu uns gehört haben und weil die noch nie zu uns gehören wollten! Das sind keine richtigen Deutschen, auch wenn die das immer wieder sagen, die brauchen wir hier nicht!“ „Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung.“

„Vor allem muss hier mal klargestellt werden: es darf in Deutschland nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Wir sind nun mal eine Solidargemeinschaft, und da geht es nicht an, dass die einen ständig einzahlen, während die anderen sich nach Lust und Laune bedienen und keine Anstalten machen, ihren Lebensunterhalt durch eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit zu bestreiten!“ „Ganz richtig, diese soziale Hängematte sollte man sowieso mal ganz genau unter die Lupe nehmen. Da hängen nämlich immer nur die Falschen drin, und wir anderen müssen dafür geradestehen.“ „Recht so, es sind nämlich immer die Steuerzahler, die für diese Leute berappen dürfen. Die machen sich ja überhaupt nicht klar, dass sie auf Kosten der Allgemeinheit ein angenehmes Leben führen.“ „Jawoll, ausweisen sollte man die – wenn nicht noch viel schlimmer!“ „Ach, das sind doch bloß Stammtischparolen. Man sollte die Herrschaften mal ordentlich arbeiten lassen, vielleicht kämen sie dann auch mal auf den Geschmack, dass das, was sie von den anderen verlangen, kein Zuckerschlecken ist.“

„Aber man sollte da die Kriminalität sehr viel härter bestrafen.“ „Ja, da gebe ich Ihnen Recht.“ „Bei der kleinsten Kleinigkeit – sofort ab in den Knast! Drakonische Strafen!“ „So schlimm ist es doch nun auch wieder nicht, es wäre ja schon wünschenswert, wenn die Justiz die überhaupt mal verurteilen würde.“ „Gut, das stimmt nun auch wieder. Diese ganze Kuscheljustiz, dass da jeder, den man eigentlich für ein paar Jahre in den Bau schicken sollte, fröhlich wieder aus dem Gericht rauspaziert und den Opfern eine lange Nase dreht – Sie, ich als deutscher Staatsbürger will das nicht mehr sehen!“ „Ja, das ist in der Tat schon lange außerhalb des gesunden Rechtsempfindens. Das muss sich schleunigst ändern.“ „Und dann wird auf die immer wieder Rücksicht genommen, als sei deren Leben so fürchterlich schwer. Man muss sich ja heutzutage fast schon entschuldigen, dass man als Falschparker überhaupt noch um Gnade fleht, und währenddessen pöbelt dieses Pack im Gerichtssaal sogar noch Richter und Staatsanwalt an und lässt ein paar Rechtsverdreher los, die dem Gericht noch offen drohen.“ „Ja, das geht so nicht mehr weiter. Wir brauchen hier endlich mal eine klare Linie, damit wir überhaupt noch merken, dass wir vor dem Gesetz alle gleich sind.“ „Da bin ich vollkommen Ihrer Meinung.“

„Ich habe ja bei manchen den Eindruck – ich meine, es gibt ja solche, da liegt das nah – bei manchen könnte man ja auf den Gedanken kommen, das liegt bei denen in der Familie.“ „Das Genetische? ja, das hatte ich mir auch schon mal überlegt, dass das eine gute Erklärung sei. Aber man darf das ja nicht mehr laut sagen.“ „Warum nicht? Es entspricht ja wohl in genug Fällen den Tatsachen, und warum sollte man es dann verschweigen?“ „Naja, so als Gutmensch darf man manche Tatsachen eben auch nur noch hinter vorgehaltener Hand sagen.“ „Papperlapapp, wenn ich sehe, dass es an dem ist, dann will ich das auch öffentlich aussprechen: es gibt da offensichtlich einige, die wurden schon als Arschlöcher geboren. Und da kann man noch so viel herumprägen und herumerziehen und sozialarbeiten, die sind hoffnungslos versaut. Die Mühe kann man sich auch gleich sparen.“ „Donnerwetter, das nenne ich mal mutig! Da bin ich ganz Ihrer Meinung!“

„Und wissen Sie, was mich wirklich ankotzt? Dass die auch noch vorne und hinten alles reingesteckt kriegen!“ „Eben, die sind doch in Wahrheit die Privilegierten in diesem Staat.“ „Aber warum lässt man sich das gefallen?“ „Weil der Staat keine Kritik an diesen Verhältnissen duldet – und wenn dann tatsächlich mal ein zaghafter Einwand kommt, hacken einem schon die Systemmedien die Augen aus.“ „Ja, es ist wirklich schlimm. Eigentlich sind das unhaltbare Zustände.“ „Da haben Sie Recht. Was meinen Sie, kommt nicht bald eine nationale Erhebung?“ „Sie meinen, das ganze Volk bäumt sich auf und schüttelt sie endlich ab?“ „Ja, an der Zeit wäre es wenigstens mal.“ „Kann ich mir nicht vorstellen. Aber es stimmt. Wir sollten echt etwas dafür tun, dass sie verschwinden.“ „Richtig, wir sollten uns endlich mal als Souverän aufrichten und sagen: Ausländer raus!“ „Ausländer!? Haben Sie noch alle Latten am Zaun? Ich rede hier die ganze Zeit von diesen Politikern!“





Eintritt unfrei

13 12 2011

„Du kommst hier net rein!“ Der Muskelmann mit der dunklen Sonnenbrille schob sein Kinn drohend nach vorne. „Das ist mir vollkommen egal“, gab ich zurück, „ich habe gleich einen Termin bei Doktor Weinreich, und Sie lassen mich jetzt auf der Stelle durch.“ Das schien ihn jedoch nicht weiter zu kümmern; er musterte mich abschätzig und zischte: „’schmach Disch platt, Du kommst hier net rein!“

„Sie hätten gerne auch etwas weniger impulsiv reagieren können“, tadelte Doktor Weinreich, „der arme Mann muss ja in die Notaufnahme.“ „Falls es Sie interessiert: es ist nicht mein Unterkiefer“, antwortete Anne kühl. „Sollte einer Ihrer Gorillas mich nochmals ohne Erlaubnis anfassen, dann werden Sie das den Hinterbliebenen erklären.“ Der Patentanwalt zerfloss in Selbstmitleid. „Was soll ich denn machen, die Türsteher sind kostenlos! Und die Partei stellt sie mir auf Wunsch jederzeit zur Verfügung, da kann ich doch nicht ablehnen?“ „Können schon“, schaltete ich mich ein. „Diese Aktion war ja ursprünglich nur für Ärzte gedacht und nicht für alles, was einen Onkel Doktor auf dem Türschild hat, wenn er denn echt…“ „Kein Wort“, keuchte Weinreich, „kein Wort – ich kann mir jetzt keinen Skandal leisten! Außerdem hatte ich nicht genau gelesen, worum es da ging.“

„Großartig“, knurrte Anne. „Das ist jetzt der zweite Fall. Kannst Du mir bitte mal sagen, warum sie mich beim Gemüsehändler nicht reingelassen haben?“ Ich überlegte einen Augenblick. „Du hast kein Rezept vorweisen können?“ „Wieso denn ein Rezept“, fragte sie entgeistert. „Weil es beim Arzt jetzt ja auch jedes Mal fünf Euro kostet, und da haben sie sich wohl gedacht…“ Sie verzog das Gesicht. „Ich will von diesem Unsinn nichts mehr wissen. Weck mich, wenn es vorbei ist.“

Wir waren nicht alleine. Doktor Klengel ließ sich auf dem Wochenmarkt ein Pfund Äpfel abwiegen. „Wenigstens braucht man hier keinen Eintritt zu bezahlen“, stöhnte der Allgemeinarzt. „Bei mir haben sie ja vor der Tür herumgelungert, obwohl ich sie gar nicht bestellt hatte. Vermutlich ging es ihn nur um die fünf Euro pro Person, die sie aus meiner Praxis rausschmeißen können. Und ich sitze dann den ganzen Tag ohne einen einzigen Patienten da.“ „Moment“, mischte sich Anne ein. „Die kassieren fünf Euro, obwohl sie einen Patienten überhaupt nicht in die Praxis lassen?“ „Aber natürlich“, erklärte Klengel mit schiefem Lächeln. „Das ist doch die übliche Politik dieser, naja, nennen wir’s mal spaßeshalber Regierung. Es funktioniert wie dies ominöse Betreuungsgeld: Sie bekommen es ausgezahlt, wenn Sie es nicht brauchen, weil Sie das Angebot nicht in Anspruch nehmen.“

Allein wir blieben ohne Erfolg. Weder in die Buchhandlung noch ins Schuhgeschäft ließ man uns vor, letzteres sehr zum Ärger von Anne, die wenigstens gehofft hatte, dass die Liberalen etwas für den Einzelhandel in die Waagschale werfen würden. „Das ist leider nicht möglich“, jammerte die Verkäuferin durch den Türspalt, während der Bulle davor drohend seine Fäuste schüttelte und sie zum Schweigen ermahnte. „Wir sind nur ein mittelständisches Unternehmen. Wären wir ein Mischkonzern mit einem Vorstand, der im Schnitt fünf Jahre Knast gekriegt hat und aus chronischer Unlust lieber auf freiem Fuß bleibt, dann sähe die Sache gleich ganz anders aus.“ „Man müsste diese Besuche doch reduzieren können“, überlegte ich. „Versetzen wir uns doch mal in die Regierung – sie gehen vermutlich davon aus, dass ein Besuch pro Jahr ausreicht, und dann kann man das stufenweise noch weiter reduzieren.“ „Sie erwarten von mir, dass ich bereits im Januar weiß, dass ich mir im Sommer einen Sonnenbrand hole und im Herbst den Fuß verstauche?“ Anne schüttelte den Kopf. „Wenn man das konsequent weiterdenkt, sind wir irgendwann so weit, dass Säuglinge sich ihre Vorsorgeuntersuchungen für Senioren zusammen mit den ersten Impfungen abholen und nur noch kostenfrei zum Zahnarzt kommen, wenn sie noch keine Zähne haben.“ „Du hast es verstanden“, nickte ich. „Das ist ungefähr das intellektuelle Niveau des Bundeskabinetts.“ Anne runzelte die Stirn. „Und wie verdienen dann Ärzte überhaupt noch etwas?“ Ich lächelte nachsichtig. „Wozu gibt es denn schließlich chronisch Kranke?“

„Sie kommen hier nicht rein!“ Mandy Schwidarski hing aus dem Fenster der Agentur Trends & Friends; unten dräute der Türwärter. „Ich habe alles probiert“, rief sie, „aber die lassen nicht mit sich reden. Wir mussten uns ja selbst schon vom Nachbargrundstück übers Dach abseilen, um überhaupt in unsere Büros zu kommen.“ „Sie machen es gründlich“, schimpfte Anne. „Es ist vollkommen sinnlos, aber sie machen es wenigstens gründlich.“ „Was willst Du hier“, bellte inzwischen der Idiot an der Tür. „Du kommst hier net rein!“ „Ich stehe hier so lange, wie es mir passt.“ Er guckte mich stumpfsinnig an. Da hatte ich eine Idee. „Wir wollten doch eigentlich nur ein paar Urlaubsbilder ansehen“, fragte ich Anne. Sie nickte. „Und ich komme wegen der Tipps aus der Reiseredaktion – man will ja nicht unbedingt da Urlaub machen, wo der Chef hinfliegt.“ „Perfekt“, grinste ich und klatschte in die Hände. „Wir sind also nicht geschäftlich hier. He, Fettwanst!“ Der Trottel vor der Tür blähte die Nüstern. „Weg da, wir sind privat hier!“ Eilfertig riss er die Tür auf. „Privatpatienten“, stammelte er. „Hier entlang, die Herrschaften!“ Anne würdigte ihn keines Blickes. Ich schnalzte mit der Zunge. „Hervorragend! Und nachher gehen wir noch mal zum Gemüsehändler. Auf eigene Rechnung, versteht sich.“