„Du kommst hier net rein!“ Der Muskelmann mit der dunklen Sonnenbrille schob sein Kinn drohend nach vorne. „Das ist mir vollkommen egal“, gab ich zurück, „ich habe gleich einen Termin bei Doktor Weinreich, und Sie lassen mich jetzt auf der Stelle durch.“ Das schien ihn jedoch nicht weiter zu kümmern; er musterte mich abschätzig und zischte: „’schmach Disch platt, Du kommst hier net rein!“
„Sie hätten gerne auch etwas weniger impulsiv reagieren können“, tadelte Doktor Weinreich, „der arme Mann muss ja in die Notaufnahme.“ „Falls es Sie interessiert: es ist nicht mein Unterkiefer“, antwortete Anne kühl. „Sollte einer Ihrer Gorillas mich nochmals ohne Erlaubnis anfassen, dann werden Sie das den Hinterbliebenen erklären.“ Der Patentanwalt zerfloss in Selbstmitleid. „Was soll ich denn machen, die Türsteher sind kostenlos! Und die Partei stellt sie mir auf Wunsch jederzeit zur Verfügung, da kann ich doch nicht ablehnen?“ „Können schon“, schaltete ich mich ein. „Diese Aktion war ja ursprünglich nur für Ärzte gedacht und nicht für alles, was einen Onkel Doktor auf dem Türschild hat, wenn er denn echt…“ „Kein Wort“, keuchte Weinreich, „kein Wort – ich kann mir jetzt keinen Skandal leisten! Außerdem hatte ich nicht genau gelesen, worum es da ging.“
„Großartig“, knurrte Anne. „Das ist jetzt der zweite Fall. Kannst Du mir bitte mal sagen, warum sie mich beim Gemüsehändler nicht reingelassen haben?“ Ich überlegte einen Augenblick. „Du hast kein Rezept vorweisen können?“ „Wieso denn ein Rezept“, fragte sie entgeistert. „Weil es beim Arzt jetzt ja auch jedes Mal fünf Euro kostet, und da haben sie sich wohl gedacht…“ Sie verzog das Gesicht. „Ich will von diesem Unsinn nichts mehr wissen. Weck mich, wenn es vorbei ist.“
Wir waren nicht alleine. Doktor Klengel ließ sich auf dem Wochenmarkt ein Pfund Äpfel abwiegen. „Wenigstens braucht man hier keinen Eintritt zu bezahlen“, stöhnte der Allgemeinarzt. „Bei mir haben sie ja vor der Tür herumgelungert, obwohl ich sie gar nicht bestellt hatte. Vermutlich ging es ihn nur um die fünf Euro pro Person, die sie aus meiner Praxis rausschmeißen können. Und ich sitze dann den ganzen Tag ohne einen einzigen Patienten da.“ „Moment“, mischte sich Anne ein. „Die kassieren fünf Euro, obwohl sie einen Patienten überhaupt nicht in die Praxis lassen?“ „Aber natürlich“, erklärte Klengel mit schiefem Lächeln. „Das ist doch die übliche Politik dieser, naja, nennen wir’s mal spaßeshalber Regierung. Es funktioniert wie dies ominöse Betreuungsgeld: Sie bekommen es ausgezahlt, wenn Sie es nicht brauchen, weil Sie das Angebot nicht in Anspruch nehmen.“
Allein wir blieben ohne Erfolg. Weder in die Buchhandlung noch ins Schuhgeschäft ließ man uns vor, letzteres sehr zum Ärger von Anne, die wenigstens gehofft hatte, dass die Liberalen etwas für den Einzelhandel in die Waagschale werfen würden. „Das ist leider nicht möglich“, jammerte die Verkäuferin durch den Türspalt, während der Bulle davor drohend seine Fäuste schüttelte und sie zum Schweigen ermahnte. „Wir sind nur ein mittelständisches Unternehmen. Wären wir ein Mischkonzern mit einem Vorstand, der im Schnitt fünf Jahre Knast gekriegt hat und aus chronischer Unlust lieber auf freiem Fuß bleibt, dann sähe die Sache gleich ganz anders aus.“ „Man müsste diese Besuche doch reduzieren können“, überlegte ich. „Versetzen wir uns doch mal in die Regierung – sie gehen vermutlich davon aus, dass ein Besuch pro Jahr ausreicht, und dann kann man das stufenweise noch weiter reduzieren.“ „Sie erwarten von mir, dass ich bereits im Januar weiß, dass ich mir im Sommer einen Sonnenbrand hole und im Herbst den Fuß verstauche?“ Anne schüttelte den Kopf. „Wenn man das konsequent weiterdenkt, sind wir irgendwann so weit, dass Säuglinge sich ihre Vorsorgeuntersuchungen für Senioren zusammen mit den ersten Impfungen abholen und nur noch kostenfrei zum Zahnarzt kommen, wenn sie noch keine Zähne haben.“ „Du hast es verstanden“, nickte ich. „Das ist ungefähr das intellektuelle Niveau des Bundeskabinetts.“ Anne runzelte die Stirn. „Und wie verdienen dann Ärzte überhaupt noch etwas?“ Ich lächelte nachsichtig. „Wozu gibt es denn schließlich chronisch Kranke?“
„Sie kommen hier nicht rein!“ Mandy Schwidarski hing aus dem Fenster der Agentur Trends & Friends; unten dräute der Türwärter. „Ich habe alles probiert“, rief sie, „aber die lassen nicht mit sich reden. Wir mussten uns ja selbst schon vom Nachbargrundstück übers Dach abseilen, um überhaupt in unsere Büros zu kommen.“ „Sie machen es gründlich“, schimpfte Anne. „Es ist vollkommen sinnlos, aber sie machen es wenigstens gründlich.“ „Was willst Du hier“, bellte inzwischen der Idiot an der Tür. „Du kommst hier net rein!“ „Ich stehe hier so lange, wie es mir passt.“ Er guckte mich stumpfsinnig an. Da hatte ich eine Idee. „Wir wollten doch eigentlich nur ein paar Urlaubsbilder ansehen“, fragte ich Anne. Sie nickte. „Und ich komme wegen der Tipps aus der Reiseredaktion – man will ja nicht unbedingt da Urlaub machen, wo der Chef hinfliegt.“ „Perfekt“, grinste ich und klatschte in die Hände. „Wir sind also nicht geschäftlich hier. He, Fettwanst!“ Der Trottel vor der Tür blähte die Nüstern. „Weg da, wir sind privat hier!“ Eilfertig riss er die Tür auf. „Privatpatienten“, stammelte er. „Hier entlang, die Herrschaften!“ Anne würdigte ihn keines Blickes. Ich schnalzte mit der Zunge. „Hervorragend! Und nachher gehen wir noch mal zum Gemüsehändler. Auf eigene Rechnung, versteht sich.“
Satzspiegel