Echt jetzt

20 12 2011

„Lass mich endlich in Ruhe, doofe Kuh!“ Die junge Mutter war außer sich vor Zorn „Leon-Balthasar“, fauchte sie, „wie oft habe ich Dir gesagt, dass Du Dein natriumarmes Wasser austrinken sollst! Wenn Du jetzt nicht artig bist, kommst Du nicht in den Golfverein und musst mit Kindern von Arbeitslosen spielen!“ Siebels nuckelte an seinem Plastikkaffee. „Großartig“, murmelte er. „Die Alte ist wirklich fantastisch. Das Scheißbalg auch. Großartig. Man möchte auf der Stelle kotzen.“

Die Maskenbildnerin puderte die Dreißigjährige ab und richtete ihr ein paar Stirnfransen mit einigen Stößen aus der Sprayflasche. Der Regieassistent gestikulierte wild. „So von hinten“, markierte er, „dann können Sie ihm den Arm auf den Rücken drehen. Das sieht unheimlich schmerzhaft aus, ist es aber nicht, wenn das Opfer eingeweiht ist.“ „Kenn ich“, brüstete sich das Kind. „Hatten wir in der letzten Serie. Da hab ich voll eins in die Fresse gekriegt von meiner Mutter. Die spielt heute hier die Jugendstaatsanwältin.“ Der Regieassistent blätterte unschlüssig das Skript durch. „Davon weiß ich gar nichts. Haben wir eventuell das Drehbuch für diese Folge geändert?“ Siebels war unbemerkt dazugetreten. „Die Staatsanwältin haben wir zur Vorsicht, und dann schauen wir mal, wie sich die Episode entwickelt. Wenn er in dem Konflikt mit seinem Vater wirklich gut rüberkommt, können wir ihn das Auto in die Luft jagen lassen. Da wäre dann automatisch die Polizei mit im Spiel, weil es einen schwerverletzten Passanten gibt, und dann wird er ins Erziehungsheim gesteckt.“

Und schon lief das muntere Treiben weiter. „Sagen Sie mal“, fragte ich den TV-Erfinder, „übertreiben Sie es nicht ein bisschen mit Ihrer geskripteten Realität?“ Er blickte mich mit einer Mischung aus Langeweile und Erstaunen an. „Ich verstehe Ihre Frage nicht ganz – war das etwa ernst gemeint?“ „Natürlich. Ein Drittel der Zuschauer ist der Überzeugung, dass es sich bei dem Schmodder um nichts als die abgefilmte Wahrheit handelt.“ Er grinste. „Sehr gut, zumindest für den Sender. Genau das Publikum ist doch das Rückgrat eines typischen Prekariatsprogramms. Wer diesen billig gestrickten Sozialporno für bare Münze nimmt, ist auch der ideale Werbekunde. Die fragen nicht nach, was die Werbung ihnen sagt, muss stimmen, sonst wäre es ja nicht im Fernsehen.“ „Das Medium ist die Botschaft“, seufzte ich. „Ganz recht“, tröstete er mich. „Aber nehmen Sie sich das nicht zu Herzen, es stimmt mehr, als Sie bisher angenommen hatten. Und es ist gar nicht einmal so schlecht.“

Die Mutter hatte nun Verstärkung von einem sichtlich genervten Gatten bekommen. Er war noch nicht ganz zur Tür herein und bekam schon einen Wutanfall. „Was heißt hier Sitzenbleiben“, tobte er. „Hast Du dem Anwalt schon gesagt, dass er den Klassenlehrer fertigmachen soll? und den Direktor? und das Schulamt weiß auch noch nicht Bescheid? Was mache ich hier eigentlich den ganzen Tag?“ „Du arbeitest“, versuchte es seine Frau schüchtern. Da explodierte er. „Richtig, ich arbeite!“ Fast fegte er mit seinem Gefuchtel die westafrikanischen Skulpturen (zweifelsohne billige Replikate, die Originale hätte man nach dem Diebstahl in einen Safe gepackt, aber sicher nicht in eine Bauhaus-Schrankwand mit Halogenstrahlern) „Ich arbeite, während Du Dir hier mit Deinem Sohn, dem Sitzenbleiber, einen schönen Tag machst! Wenn Du keine Lust mehr auf mein Geld hast, dann sag es doch einfach!“ „Echt jetzt, Ihr seid alle beide doof“, verkündete der Halbwüchsige, marschierte in die Küche und öffnete eine Limonadenflasche. „Leon-Balthasar“, ließ sich der hysterische Muttersopran vernehmen, „keine Limonade! Ich will nicht, dass Du Limonade trinkst!“ „Dann kauf das Scheißzeug doch nicht“, brüllte der Junge zurück. „Du trinkst nur Gin, weil der wie Mineralwasser aussieht, Papa trinkt nur Bier und Kaffee, um nicht mit einer Bierfahne ins Büro zu kommen, und Du schmeißt jede Limo weg, sobald ich sie angebrochen habe.“

„Lassen Sie mich raten.“ Siebels blickte mich belustigt an. „Was wollen Sie denn raten? Wer hier als erster die Nerven verliert?“ „Nein, ich frage mich nur nach Ihrer Intention.“ Der altgediente Fernsehmacher lächelte. „Was vermuten Sie denn? dass ich diese elitären Schnösel als Feindbild aufbaue?“ „So in etwa“, bestätigte ich. „Allerdings wüsste ich nicht, warum das nun sonderlich toll sein sollte. Was ist denn nun neu? Haben Sie etwa heimlich arbeitslose Kleindarsteller angeheuert, um dieses Millionärspack zu spielen?“ „Besser.“ Siebels grinste von einem Ohr zum anderen. „Viel besser. Es ist gar nicht gespielt. Es ist ein Skript, aber durchaus Realität.“ Die Mutter schwankte schon gefährlich. Der Regieassistent reichte ihr einen Flachmann. „Die säuft ja echt“, stieß ich hervor. Siebels kicherte. „Warum sollte sie auch nicht saufen, schließlich ist die Frau schwer alkoholabhängig. Nennen Sie’s Method Acting. Auf jeden Fall sind das drei stinkreiche Sozialfälle, die ihr beschissenes Leben vorführen. Die Politik, vor allem die Sozialpolitik entwirft ihre hirnrissigen Konzepte ja vorwiegend anhand dieser Sendungen, mehr sehen sie nicht von der Realität. Warum sollten sie also nicht auch mal über die sogenannte Elite aufgeklärt werden?“ „Man muss es glauben, und wenn man es besser wissen sollte, dann glaubt man es erst recht?“ Er nickte. „Und dafür sorgt das Format. Und da alles, was im Fernsehen ist, der Wahrheit entspricht…“ Er nippte am Kaffee. „Das Medium ist die Botschaft. Und jeder Widerstand ist zwecklos.“


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