„Danke, das war schon sehr schön, und den Teil mit den Arbeitslosenzahlen bitte gleich noch einmal, ja? Wenn Sie etwas mehr betonen könnten, dass wir endlich bald wieder über unsere Verhältnisse leben können, wenn wir noch niedrigere Löhne für…“ „Petzig, was veranstalten Sie hier wieder für einen Quatsch! Sie sollen sofort das Studio – Moment, das ist doch die Merkel?“ „Glückwunsch, Chef. Sie haben den Sehtest bestanden. Können wir dann jetzt vielleicht weitermachen?“ „Wie, weitermachen? womit denn?“ „Mit der Neujahrsansprache, Chef.“ „Welche Neujahrsansprache, Petzig?“ „Meine Güte, die Neujahrsansprache mit der Bundeskanzlerin.“ „Wieso mit der Bundeskanzlerin? Welche Kanzlerin denn?“ „Mit der Merkel. Oder sehen Sie hier noch eine im Studio?“
„Äh, guten Abend, Frau Merkel! Lassen Sie sich nicht stören.“ „Machen wir auch nicht. Und wenn Sie mich jetzt bitte meine Arbeit machen lassen würden, Chef?“ „Petzig, hören Sie mir gefälligst zu und hören Sie mit diesem Unsinn hier auf! Keiner wird hier eine Neujahrsansprache aufzeichnen, haben wir uns verstanden?“ „Wenn Sie das der Bundeskanzlerin freundlicherweise selbst mitteilen würden?“ „Wie, ich?“ „Ja, Sie. Und dann wünsche ich Ihnen schon mal alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg, Chef. Wird sicherlich hart, so ganz ohne Job.“ „Haben Sie noch alle Tassen im Schrank, Petzig? Wollen Sie mir etwa drohen?“ „Keinesfalls, Chef. Aber da die Order direkt vom Intendanten kommt, wissen Sie ja, wer da am längeren Hebel sitzt.“
„Lassen Sie mal sehen – aber das ist ja ein Manuskript für Dezember 2012?“ „Was hatten Sie erwartet, dass wir die vom letzten Jahr noch einmal aufnehmen?“ „Aber wie können Sie denn jetzt schon die Neujahrsansprache für dieses Jahr – also eigentlich schon für das nächste, weil dieses ist ja das nächste Jahr, also wenn Sie jetzt das nächste aufnehmen, dann ist dieses, nein: im nächsten…“ „Jetzt stoibern Sie mal nicht herum, Chef, das hat schon seine Richtigkeit. – Momentchen noch, Frau Merkel. Wir sind gleich so weit. Sie können ja schon mal den Absatz über die Familienpolitik proben, okay?“ „Wieso Familienpolitik, was sagt sie denn da?“ „Dass sie sich wieder ein ganzes Jahr ernsthaft über Kinderbetreuungen gezankt haben, weil die Familienministerin außer inkompetentem Gefasel nichts von sich gegeben hat.“ „Mehr hat sie doch eh nie getan.“ „Und weshalb sollten wir dann mit der Ansprache noch ein ganzes Jahr warten?“
„Nein, Petzig – das kann ich so nicht zulassen, das bringen wir doch diesen Sender in Verruf.“ „Bei der Art, wie hier die Führungspositionen besetzt werden, ist da nicht mehr viel in Verruf zu bringen.“ „Petzig, hören Sie, das ist doch nicht vernünftig!“ „Das weiß ich selber. Sagen Sie das der Kanzlerin. Die dürfte es nicht stören.“ „Weil sie selten etwas Vernünftiges macht, ich weiß. Aber das hier ist doch gefährlich.“ „Momentchen noch, Frau Merkel. Lesen Sie doch gerade mal den Abschnitt über die Eurobonds nach und warum die Steuererhöhungen alternativlos sind.“ „Eurobonds? Alternativlos? und Steuererhöhungen!?“ „Lesen Sie das Manuskript.“ „Petzig, wenn Sie mich hier zum Narren halten wollen, ziehe ich Ihnen die Hammelbeine lang!“ „Netter Versuch, Chef. Aber das Skript ist mit der Kanzlerin abgestimmt. Und ich würde jetzt endlich mit der Aufnahme fortfahren können, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Das ist doch alles Blödsinn – jetzt will sie auf einmal Eurobonds, aber die Krise ist noch nicht überwunden, obwohl die Wirtschaft unheimlich toll wächst, weil die Rezession einen Tick weniger stark ausgefallen ist als befürchtet, und da die Umfragewerte der FDP kaum noch fallen können, ist diese Koalition genauso toll und handlungsfähig wie immer? Was hat die Alte bloß geraucht?“ „Keine Ahnung, was Sie meinen. Es stimmt doch alles.“ „Das mit der FDP vielleicht, aber wie kommen Sie denn bitte auf Eurobonds? Die will die Merkel doch unbedingt vermeiden, und jetzt sagt sie, die seien alternativlos?“ „Haben Sie eventuell in den letzten sechs Jahren mal ihren Regierungsstil zur Kenntnis genommen?“ „Nein, warum? ist da etwas vorhanden, was man Regieren nennen kann?“ „Also haben Sie es doch gemerkt. Sie regiert nicht, und wenn, dann macht sie das, was sie vorher noch als völlig ausgeschlossen bezeichnet hat.“ „Und die Finanztransaktionssteuer?“ „Die Kanzlerin ist ja nicht die einzige, die in dieser Koalition umkippt.“
„Petzig, Sie werden mir diese Aufnahme jetzt schnell und unauffällig über die Bühne bringen, und dann will ich davon nichts mehr hören, ja?“ „Ich denke, das haben nicht Sie zu entscheiden, Chef.“ „Was soll das überhaupt, gucken Sie sich diese Rede doch mal an. Kein Wort zu Europa. Kein Wort zu den Sozialleistungen. Kein Wort zu Pflege und Mindestlohn und gerechter Einkommensverteilung und Bürgerrechten und Demokratie.“ „Hat das die Kanzlerin in den letzten Jahren jemals gejuckt?“ „Nein, aber wenn in diesem Jahr tatsächlich etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, wie steht sie dann da? Sie geht doch auf nichts ein, das ist doch völlig egal, was sie da labert.“ „Chef, Sie haben’s endlich gecheckt: es ist die Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin. Die ist wie das Murmeltier, jedes Jahr wieder. Immer dasselbe. Es ist egal, was sie sagt, und es ist auch egal, wann wir es aufzeichnen. Weil es letztlich völlig egal ist, wann es gesendet wird.“ „Machen Sie, Petzig. Machen Sie, was Sie wollen, ich wasche meine Hände in Unschuld. Und wahrscheinlich werden Sie als nächstes auch noch die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten aufzeichnen.“ „Haben wir schon, Chef. Alles längst im Kasten. Bis einschließlich 2014.“
Satzspiegel