Karnevalium

21 02 2012

„Dä-däää! Dä-däää!“ Der Mann torkelte, hielt sich an der Stuhllehne fest und brach plötzlich in irres Gelächter aus. „Helau! Kölle Ahoi! Ruff-dadda-daa!“ Er schwenkte seinen Papierhut und pustete in den Luftrüssel hinein. Weggle drückte die Stoppuhr und setzte ein Häkchen auf die Liste. „Exakt so“, summte er befriedigt. „Läuft wie am Schnürchen. Sie sehen, die Dosierung ist wirklich kinderleicht.“

Die Käfige waren sternförmig angeordnet; der Raum in der Mitte hatte Platz für ein Schaltbrett und diverse Schränkchen. Panzerglas trennte die Probanden in ihren kleinen Zellen von den drei Männern im Kittel. Eine kleine Klappe gab Gegenstände frei, über einen Lautsprecher konnten Weggle und die Assistenten in die abgesperrten Zimmerchen sprechen. „Nummer 4 ist ein schönes Beispiel“, sagte er und kreuzte eine Reihe von Kästchen auf seinem Klemmbrett an. „Fast keine Aggression. Ganz leicht agitiert, aber so gut wie keine Anzeichen von Hysterie. Er würde sich in dem Zustand niemals panisch verhalten. Man kriegt ihn hervorragend unter Kontrolle.“ „Aber sein Verhalten könnte jeden Augenblick umschlagen“, bemerkte ich, „der Alkohol vermindert deutlich die Konzentration, und der Mann ist ja auch schon ziemlich enthemmt.“ Weggle grinste breit. „Es ist Apfelsaft“, antwortete er, „und wir arbeiten hier an einer ganz anderen Problematik.“

Gegenüber tastete sich ein Proband bereits mit beiden Händen an der Trennscheibe entlang. „Wenn das Wasser im Rhein goldner Wein wär“, johlte der Berauschte, „ja, dann hupp! ich so hupp! ein hupp!“ „Die subjektive Wirkung ist natürlich ähnlich“, befand der Wissenschaftler. „Sie haben insofern Recht, als dass Sie die Intoxikation mit der eines Alkoholismus vergleichen. Sie erleben es wie eine zugesoffene Birne, wenn Sie mir diesen Vergleich erlauben.“ Derweil kicherte die Testperson auf einmal unmotiviert. „Es ist ja alles so lustig“, fiepte das Männchen im glitzernden Umhang; offenbar hatte ihn jemand als Insekt mit Flügeln und Brille verkleidet, dass er selbst diesen Mummenschanz angelegt haben könnte, war ausgeschlossen, falls er nicht schon vorher vollkommen betrunken gewesen sein sollte. Er tanzte in seiner kleinen Kabause im Kreis. „Das ist ja alles so… ich müsste… aber ich kann ja nicht…“ „Schneider“, rief Weggle über die Achsel, „Dosis steigern, wir gehen jetzt zu Stufe 3 über.“ Die Klappe unterhalb des Fensters öffnete sich. Ein Becher mit einer gelblichen Flüssigkeit stand darin. „Das sind jetzt zwei Milligramm“, konstatierte Weggle. „Zwei Milligramm wovon“, fragte ich. Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Überwachungsbogen. „Karnevalium.“

Nummer 4 hatte ich inzwischen auf den Stuhl gesetzt und nestelte an seiner Krawatte. „Gleich wieder da“, ächzte er. „Gleich weiter.“ Weggle drehte sich nach rechts und nahm einen anderes Versuchskaninchen ins Auge. „Schneider“, befahl er, „die konzentrierte Lösung.“ Der Gehilfe tropfte mittels einer Pipette eine wasserklare Flüssigkeit in einen Pappbecher. Ich sah aufmerksam hin. „Und jetzt passen Sie gut auf“, riet mir Weggle. Ich sah dem Mann zu, wie er den Saft hinunterschüttete. Inzwischen hielt er sich bereits an der Tischkante fest. „Met ner Pappnas gebore“, lallte er, „dr Dom en dr Täsch…“ Langsam wurde es doch etwas unheimlich. „Was macht Ihr Elixier nur“, fragte ich, „die Leute sind ja völlig weggetreten.“ Der Versuchsleiter nickte. „Das ist auch der Sinn der Sache. Aber schauen Sie sich das mal an.“ Er drückte auf einen Knopf vor der Scheibe. „Herr Höbelsprächer“, quäkte es aus dem Lautsprecher in der Kabine, „Ihr Haus ist ausgeraubt worden.“ „Viva Colonia“, tönte es zurück. „Man hat Ihre Familie bei einer Verkehrskontrolle erschossen.“ „Deutschland, Deutschland, über alles!“ „Der Benzinpreis steigt.“ „Olé, olé-olé-olé!“ „Sie sehen“, replizierte Weggle kühl, „die Testpersonen sind nicht aus der Ruhe zu bringen. Was auch immer wir mit ihnen anstellen, sie haben eine einigermaßen adäquate Reaktion auf Lager. Und sie sind nach wie vor in bester Feierlaune.“ „Daher Karnenvalium“, mutmaßte ich. Weggle nickte. „Haben Sie sich je gefragt, warum die Leute im Fernsehen bei den Karnevalsumzügen und zu Silvester so penetrant fröhlich erscheinen?“

Ich sah, wie der Mann sich keuchend auf dem Stuhl krümmte; gleichwohl lächelte er und nuckelte noch immer an seinem Becher. Weggle sah zu Boden. „Die Zeiten werden nicht einfacher. Die Regierung hat uns beauftragt, einen Stoff zu entwickeln, der die Eigenschaften eines Beruhigungsmittels mit denen des Alkohols verbindet.“ Er wiegte die Ampulle mit der wässrigen Flüssigkeit in der Hand. „Was ist denn das Neue an Ihren Forschungen?“ Er blickte angestrengt an mir vorbei. „Es lässt sich gut dosieren. Die Tabletten waren auf Dauer nicht so zuverlässig.“ „Gut“, sagte ich. „Dann wird es ja sicher in diesen Zeiten nicht lange dauern, bis das Präparat auf den freien Markt kommt.“ Weggle winkte ab. „Sicher nicht.“ Verzweifelt kontrollierte er die Häkchen auf seinem Bogen. „Das wäre eine Katastrophe. Und es wäre auch gar nicht erlaubt.“ Er senkte die Stimme. „Bei dem, was uns alles noch bevorsteht? Vollkommen unmöglich.“

Nummer 4 krabbelte glucksend am Boden; die anderen krakeelten in ihren Räumen und schmissen Konfetti. „Herzlichen Dank“, sagte ich. Weggle nickte stumm, bevor er auf den Türsummer drückte. Doch dann hielt er mich plötzlich am Arm zurück. „Ich kann Ihnen nicht mehr verraten“, flüsterte er, „aber Sie sollten heute kein Leitungswasser…“


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