Das Missverständnis

22 02 2012

„Jetzt wollen sie ihn doch?“ „Wenigstens wundert sich keiner, dass er noch will.“ „Warum auch nicht. Er fand ja schon immer, dass er etwas Besseres ist.“ „Daher diese selbstbewusst zur Schau gestellte Demut.“ „Und das vorher?“ „Das kann bloß ein Missverständnis gewesen sein.“

„Das Merkwürdige an dem Mann ist doch, dass er wegen seiner Vergangenheit Präsident werden soll.“ „Sie meinen, weil er keine hatte?“ „Haben hatte er die schon, aber eben anders, als man jetzt sieht.“ „Dann müsste Merkel ihn doch eigentlich schätzen.“ „Weil sie auch so fortschrittlich ist, dass ihre liberale Haltung schon fast wieder konservativ wird?“ „Nein, aber auch sie ist eine Frau der ersten Stunde.“ „Verstehe, sie hat 1989 entdeckt, dass sie eigentlich schon immer Bürgerrechtlerin gewesen sein musste.“ „Es handelt sich sicherlich nur um einen Fehlschluss.“

„À propos – Geschichte!“ „Gab es da auch Falschinterpretationen?“ „Wie man’s nimmt. Er will partout, dass eine Kundgebung gegen den Abbau von Bürgerrechten nicht als Montagsdemonstration bezeichnet wird.“ „So viel historische Bildung! Das passt ja dazu, dass die SED das Unrecht der Vertreibung mit der Ostgrenze zementiert hat.“ „Ich sehe es förmlich vor mir, wie Walter Ulbricht Väterchen Stalin mit dem Küchenmesser bedroht, dass er ja nicht an der Grenze herummontiert.“ „Er kennt sich aus mit historisch bedingter Hybris, seine Selbsteinschätzung beruht ja zu einem nicht ganz geringen Teil darauf.“ „Aber das ist ja aus dem Zusammenhang gerissen.“ „Weil er das nicht direkt den Polen ins Gesicht sagt?“ „Dafür ist Steinbach zuständig. Nein, im Zweifel hatte die SED einen guten Grund dafür.“ „Der Verfassungsschutz hat ja auch immer einen Grund, wenn er Parlamentarier beschnüffelt.“ „Das ist das mühevoll gelernte Rechtsstaatsprinzip: wenn ein Rechtsstaat etwas tut, muss es richtig sein, denn sonst wäre es ja kein Rechtsstaat.“ „Deshalb hat er auch die anlasslose Vorratsdatenspeicherung für legitim erklärt, wenn sie nur tatsächliche Erfolge bringt.“ „Meinen Sie, dass das Bundesverfassungsgericht demnächst die Folter damit für legal erklärt?“ „Das muss sicher wieder nur ein Missverständnis sein.“

„Dabei muss man dem Mann doch Respekt zollen.“ „Weil er eine so hochpolitische Person gewesen ist, die aber so perfekt integriert war, dass sie quasi schon wieder völlig unpolitisch ist.“ „Er hat doch auch gesagt, dass er keine politischen Erlösungsfantasien mag.“ „Für einen Theologen kein Wunder, die sind ja immer schon unpolitisch gewesen.“ „Was war dann die Wiedervereinigung?“ „Die muss er missverstanden haben.“ „Vermutlich als Erweckungserlebnis.“ „Immerhin wäre das ein Grund, warum er danach seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat.“ „Kann er das nicht?“ „Warum noch mal wollten die Leute Wulff loswerden?“

„Immerhin wird man von ihm nicht mehr hören, dass der Islam zu Deutschland gehört.“ „Dass das Judentum zu Deutschland gehört, wird er sich auch verkneifen.“ „Er beklagt ja nur, dass der Holocaust immer so wichtig genommen wird.“ „Vor allem von den Opfern.“ „Das ist wohl wieder so ein Versehen wie die Prager Deklaration.“ „Sie müssen gerecht bleiben, wenn man sich mit Holocaustleugnern an einen Tisch setzt, dann kann man doch nicht ahnen, dass sich unter denen auch Antisemiten befinden.“ „Das hat er wohl auch gemeint mit seinem Lob für Sarrazin.“ „Dass er ihm Mut attestiert?“ „Es gehört jede Menge Mut dazu, sich vor geistig gesunde Menschen zu stellen und Müll zu verbreiten.“ „Aber er hat Sarrazins Biologismus kritisiert.“ „Dass der nur das Vehikel war, ohne dass Sarrazin keine Aufmerksamkeit für sein Gerede über mehr oder weniger dumme Völker bekommen hätte, bemerkt er nicht.“ „Er beschwert sich über den Lärm, lobt aber den Fahrer, dass er so schön hupen kann.“ „Sie dürfen von ihm keine kommunikativen Fähigkeiten erwarten, der Mann ist nur Theologe.“ „Eben, da redet man meist vor Tiefschläfern.“

„Abgesehen davon, er findet Christen zuverlässiger.“ „Das ist sicher seiner Lebenserfahrung geschuldet.“ „Als Pastor?“ „Eher im Zusammenhang mit der Staatssicherheit. Aber das werden wir sicherlich wieder falsch verstanden haben.“ „Deshalb will er ja auch den Nationalstolz nicht nur den Bekloppten überlassen.“ „Ein Berufschrist, der Stolz reklamiert – das ist doch eine Todsünde?“ „Sie müssen es metaphorisch verstehen. Er will, dass jeder von außen normal aussehende Bürger Brandsätze schmeißen kann.“ „Das verstehe ich. Er moniert ja immerzu, dass die deutsche Opferrolle nicht ausreichend gewürdigt wird.“ „Deshalb jammert er ja ständig darüber, dass die Deutschen ständig über irgendetwas jammern.“ „Das ist doch auch ein Missverständnis, dass er lieber Altdeutsche mag?“ „Sie meinen, weil er ein Neudeutscher ist?“ „Ich verstehe, das scheint eine Mentalitätsfrage zu sein. Ein ost-westlicher Divan.“ „In diesen Landstrichen kann man nachvollziehen, dass er keine Trauerfeier für getötete Ausländer mag.“ „Macht nichts. Mit der Einstellung haben wir bestimmt bald einen Anlass für eine Festrede.“ „Vermutlich ein Synagogenbrand.“

„Immerhin, er kennt nur Deutsche. Keine Parteien mehr.“ „Das hat ja auch etwas Erhebendes, wenn man begreift, dass es nicht nur im Parteienspektrum keine Opposition mehr gibt.“ „Sie meinen: keine legale Opposition.“ „Und wir haben endlich einen Präsidenten, den man auch aus dem Zusammenhang gerissen falsch verstehen kann.“