Das kleine Glück

23 02 2012

Anne errötete heftig. „Mit Dir hatte ich jetzt ja gar nicht gerechnet“, säuselte sie. „Ich wohne zufällig hier“, antwortete ich und warf den Müllbeutel in die Tonne. „Du hättest anrufen können, weil ich heute noch ein Meeting mit Minnichkeit habe. Aber ich kann Dir auch eine Tasse Tee anbieten, wenn Du möchtest.“ „Nicht nötig“, wehrte sie ab. „Ich bin ja nur versehentlich hier, also fast.“ Verlegen strich sie sich durchs Haar. „Du brauchst Dich überhaupt nicht um mich zu kümmern. Tu einfach so, als wäre ich gar nicht da.“

Kaum hatte ich die Treppe ins Obergeschoss erklommen, hörte ich eine Klingel unter mir. Es läutete. Vorsichtig, als wollte sie nicht gesehen werden, schlich Anne die Treppe empor. Ich rührte mich nicht. Da öffnete sich eine Tür. Sigune.

Sigune ist eine Frau, die irgendwann mal Mitte Dreißig gewesen sein muss, biologisch abbaubare Oberbekleidung trägt, ihre Topfpflanzen nur mit linksgerührtem Mondwasser gießt und im Einklang mit dem Kosmos den Boden fegt. Walgesang wallt aus ihren Hallen, während sie nach neuestem Feng Shui die Möbel durch die Bude rückt. Mit einem Wort, sie ist eine professionelle Baumkuschlerin.

„Jeder hat so eine Dose“, schmollte Anne und rührte in ihrer Tasse. „Absolut jeder! Die Damen in der Kanzlei schwören darauf. Sogar Staatsanwalt Husenkirchen.“ Ich hob die Brauen. „Der? Eine magische Wunschdose?“ „Keine Wunschdose“, belehrte sie mich, „sondern ein Glücksbringer. Es funktioniert mit diesem Erdmagnetfeld, das alle negativ gepolten Energien nur an einer Seite – also irgendwie so, aber alles ganz wissenschaftlich.“ „Husenkirchen läuft mit einer Blechdose durch die Gegend?“ Anne ließ den Löffel auf die Tischplatte fallen. „Doch nicht er! Seine Tochter hat eine.“ Ich blieb skeptisch. „Wenn jeder eine hat, warum ist dann das Glück in meiner Umgebung noch nicht messbar angestiegen?“ Anne rümpfte die Nase. „Meine Güte, sei doch nicht so unerleuchtet – sie ist doch nur für das persönliche Glück zuständig.“ „Aber ist nicht geteiltes Glück doppeltes Glück?“

Herr Breschke zeigte mir stolz das kleine, leicht eingedellte Blechding, das er in der Jackentasche mit sich herumtrug. „Individuell angefertigt“, hob er hervor. „Keine sieht wie die andere aus. Und sie haben eine individuelle Strahlenmagnetisierung, oder wie das heißt. Diese Elektronenspiralwirkung, die aus dem Südpol kommt.“ Ich wog das Döschen in der hohlen Hand. „Leer“, befand ich. „Aber auf keine Fall“, entrüstete sich der pensionierte Beamte. „Das ist doch dieses Gamma-Dingsda, und damit wird die Resonanz aus dem Strahlengitter wieder neutral.“ Anne blickte hilflos. „Ich weiß es nicht, ich habe meine Dose ja erst heute bestellt. Sie soll morgen ankommen.“ „Und was kann dieses Ding?“ Breschke zuckte die Achseln. „Es sorgt eben für mehr Glück. Wissenschaftlich erwiesen. Dann muss es doch wohl stimmen, oder?“

Nachdem mich Anne ihrer Kosmetikerin, ihrer neuen Kollegin sowie einem ihr auch nicht näher bekannten Taxifahrer vorgestellt hatte, wusste ich wenigstens, dass ich einer der wenigen Menschen in dieser Stadt war, der bis jetzt ohne Dose zu leben versuchte. „Und sie kann spürbar mehr Glück erzeugen“, versicherte mir Anne. „Kann“, gab ich entnervt zurück, „kann: muss aber nicht. Typisch, dass sie das in ihr Werbefaltblättchen schreibt. Und Du glaubst es auch noch.“ Unvermittelt stießen wir auf Doktor Klengel. „Sie sehen ja wieder ganz munter aus“, sagte der Hausarzt, „haben Sie sich an meinen Rat gehalten?“ „Dreimal täglich Gurgeln“, antwortete Anne. „Und ich habe mir heute auch eine Dose bestellt.“ Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Klengel“, flehte ich, „sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist!“ Er druckste herum. „Sie wissen ja, wie das mit labilen Patienten ist. Man gibt ihnen ein Placebo, und alles ist wieder gut.“ „Und statt Zuckerpillen verschreiben Sie jetzt Blechdöschen?“ Doktor Klengel lächelte. „Die sind wenigstens frei von Nebenwirkungen. Und die seelische Ausgeglichenheit der Patienten ist auch ein Faktor, der zu einer raschen Genesung beiträgt.“ Er zog eine Dose aus der Manteltasche. „Ich kann nicht klagen, sie bringt mir bisher kein Unglück.“

„Sei nicht ungehalten“, beruhigte mich Anne. „Ich zwinge Dich ja gar nicht. Wenn Du auf ein dauerhaft gesteigertes Wohlbefinden keinen Wert legst, bitte – Du musst Dir ja keine Dose holen. Obwohl Du es nicht weit hättest, schließlich wohnt Sigune gleich…“ „Lass mich in Ruhe“, knurrte ich. „Ich will von diesem ganzen Firlefanz nichts mehr hören. Dort ist meine Haustür, ich werde jetzt wieder in mein Arbeitszimmer zurückkehren, und ich will für den Rest des Tages nichts mehr von irgendwelchen Glücksblechdosen hören, klar?“ Anne nickte. „Meine kommt ja auch erst morgen.“

„Ach Verzeihung, bin ich hier richtig?“ Der Paketfahrer zog einen voluminösen Sack hinter sich her. Durch die transparente Kunststofffolie konnte man einen Blick auf das Innere des Beutels werfen. Neben dem Schriftzug Made in China klebte Sigunes Anschrift. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte Anne entgeistert. Gut tausend Blechbüchsen befanden sich darin, eine verbeulter als die andere. „Individuell geformt“, spottete ich. „Du möchtest jetzt bestimmt Dein Glücksdöschen schon abholen, habe ich Recht?“ Annes Augen verengten sich zu zwei gefährlichen Schlitzen. „Ich denke nicht“, sagte sie grimmig. „Diese Schlange wird sie alle selbst brauchen – jede einzelne.“