Kaffeetassen, Schlafanzüge, Kugelschreiber. „Wenn Sie mal probieren möchten“, sagte Mönninghoff und legte seine Hand auf einen der Klodeckel. „Diese Gummibonbons sind ganz exquisit. Und selbstverständlich haben wir auf das farbliche Design geachtet.“ Man hätte es allerdings auch wissen können, denn schließlich war alles in diesem Raum, alles in dieser Fabrik gestreift in den Farben der deutschen Nationalflagge. Bonbons und Socken prangten im gleichen Schwarz, Rot, Gold.
„Unsere Umsätze können sich durchaus sehen lassen“, verkündete der Produktionsleiter voller Stolz. „Es wird gekauft, mehr denn je.“ Interessiert betrachtete ich das Sockensortiment. „Woran liegt das? Sind die Deutschen auf einmal ernsthaft an ihrer nationalen Identität interessiert?“ Mönninghoff schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht. Wer für sein Vaterland ist, kauft maximal einen Schlafanzug – Nachtmütze haben wir auch im Programm, kann ich Ihnen nachher mal zeigen, das ist unser Komplettset für den Michel – aber sicher keine Klobrille.“ „Man dekoriert sein trautes Heim eben gerne in teutonischem Schmuck“, mutmaßte ich, „man hat sein Nationalgefühl stets in nächster Nähe und muss seine Gedanken nie schweifen lassen – bei einigen von denen könnte das auch gefährlich werden, wenn sie nicht mehr in den Kopf zurückfinden.“ Er grinste. „Viel einfacher. Uns geht es so gut, weil es uns so beschissen geht.“
Durch die Fensterfront sah man zwei Arbeiter, die einen Wagen mit schwarz-rot-goldenen Einkaufstaschen durch die Halle zogen; ein Gabelstapler mit einer Palette schwarz-rot-goldener Getränkedosen kreuzte ihren Weh. „Wie gesagt, wir produzieren alles, vorausgesetzt, es sieht aus wie die deutsche Flagge.“ Durch den Raum segelte eine riesige Plane mit den drei markanten Farbstreifen, sie gelangte in eine Fertigungsstraße, die sie in schwarz-rot-goldene Kunststoffstreifen zerschnitt. „Und warum geht es Ihrer Fabrik nun so gut?“ „Ich vergaß“, erinnerte sich Mönninghoff. „Wir schaffen die letzte Stütze für den aufrechten Gang unserer Landsleute. Sie sehnen sich in der großen Krise nach einem Symbol, mit dem sie sich identifizieren können.“ „Moment“, widersprach ich, „das müsste doch eigentlich der Staat sein.“ Doch er ließ sich nicht beirren. „Der Staat ist nicht in der Lage, in dieser denkbar schwierigen Situation einen Halt zu geben. Denken Sie daran: er sorgt nicht für die Sicherung unseres sozialen Zusammenhalts, er vergrößert die Ungleichheit, verteilt von unten nach oben und bringt die falschen Lösungsansätze gegen seine autoritätshörigen Bürger.“ Ich war verwirrt. „Wie kann denn der autoritäre Staat gegenüber den Bürgern etwas falsch machen?“ „Er schadet Ihnen“, antwortete Mönninghoff. „Sie wünschen sich aber, dass er nur den anderen Schaden zufügt.“
Die schwarzen Gummibonbons hatten sich als entsetzlich süßes Lakritz herausgestellt, die roten als kirschähnlich mit sehr intensiver Chemienote. Schulranzen und Damenhandtasche machten einen recht stabilen Eindruck, die Tretroller taugten wenigstens für ein bundesdeutsches Wettrennen. „Man interessiert sich nicht mehr für den Staat“, versicherte mir Mönninghoff. „Man interessiert sich auch nicht mehr für seine eigene Stellung innerhalb der Gesellschaft. Allenfalls diese schöne, feierliche Vorstellung von Nation wirkt noch.“ Ich nickte. „Deshalb schwenken die Leute beim Fußball auch nicht das Grundgesetz.“ Mönninghoff blickte sich um. „Müssten wir auch irgendwo hier haben, im Schmuckeinband, abwaschbar. Aber wie gesagt, wir identifizieren uns mit dieser vagen Idee von Deutschland – das hebt doch das Gemüt!“ Ich probierte ein gelbes Bonbon: sauer. „So groß ist das Verdienst, als Deutscher geboren zu werden, nun auch wieder nicht.“ „Ach was“, lachte er, „Sie haben ja die völlig falsche Perspektive! Wenn Sie nicht dafür verantwortlich sind, dann sagen Sie wenigstens, dass das Schicksal Sie dazu ausersehen hat. Das klingt doch gleich ganz anders.“ Das Bonbon war wirklich verdammt sauer; ich verzog das Gesicht. Mönninghoff missfiel das, wenngleich er meine Mimik offensichtlich völlig falsch deutete. „Wenn Sie Deutscher sind, sind Sie eben Deutscher. Wenn Sie’s nicht sein wollen, sind Sie trotzdem Deutscher. Dann freuen Sie sich doch wenigstens darüber!“
Spardose und Aschenbecher, Kuchenplatte und Eierbecher, alles erstrahlte in Schwarz, Rot und Gold. Irgendwo mussten sicher auch Heckenschere und Totenhemd sein. „Das Sortiment wächst. Wir haben immer wieder neue Produktideen, die wir an den Bürgern testen. Was für gut befunden wird, das kommt schnellstmöglich in den Handel.“ „Ihnen geht es also deshalb so gut, weil Sie Ihr Sortiment erweitern?“ „Aber nein“, lächelte Mönninghoff. „Das ist ja nur eine Folge. Wir können gar nicht mehr wettbewerbsfähig produzieren, außerdem haben wir Schulden. Unsere Arbeitsplätze sind alles andere als sicher. Kurz gesagt: wir stehen eigentlich kurz vor der Pleite.“ „Wie kann das sein“, gab ich verwundert zurück, „Sie haben doch reißenden Absatz.“ „Die Krise“, erinnerte er, „die Krise – wir produzieren auf Hochtouren und bezahlen trotzdem bloß Hungerlöhne. Wir sind Ausbeuter.“ „Und weil Ihre Belegschaft so frustriert ist…“ Er nickte. „Sie sind unsere besten Kunden. Es geht ihnen so schlecht, dass es uns von Monat zu Monat besser geht. Großartig, oder?“ Ich schwieg. „Schwarz, Rot, Gold. Mehr braucht es doch in dieser Lage wirklich nicht.“ Und er schlug mit der flachen Hand auf den Klodeckel.
Satzspiegel