„Wir werden alle sterben!“ Der Mann raufte sich die Haare. Verzweifelt kletterte er über die Stühle, hämmerte gegen die Tür und brüllte dabei aus Leibeskräften. „Wir werden alle sterben!“ „Gut“, nickte Grüttner. „Sehr gut. Ganz hervorragend. Noch zwei bis drei Tage, dann haben wir ihn auf die Grundstudienstufe vorbereitet.“ Er setzte ein Häkchen auf das Formular. „Wir machen wirklich Fortschritte. Dieser Panikraum ist eine ungemeine Bereicherung für die Gesellschaft.“
Grüttners Lernzentrum lag erwartungsgemäß in einem Untergeschoss; kein Tageslicht drang in die langen Flure, von denen die Seminar- und Schlafräume abzweigten. „Kommen Sie“, lockte er, „gerade hat der Grundkurs in politischer Bildung begonnen. Wir bedienen uns nur der innovativsten Unterrichtsmethoden.“ Doktor Schlehdorn stand mit dem Zeigestock im abgedunkelten Raum und zeigte auf die Lichtbilder. „Der Neger“, zischte er. Zwanzig Schüler schluchzten. „Der Neger, das ist ein Neger!“ Zwanzig Schüler wimmerten und schlugen sich die Hände vors Gesicht, um einen durchaus bekannten Landsmann aus dem Fernsehen nicht sehen zu müssen. „Sehen Sie“, informierte mich Grüttner, „wir wecken eine Verhaltensweise, indem wir den Eleven ein Objekt der Furcht zeigen. Damit haben wir ihnen auch schon genug an die Hand gegeben – zusammen mit unserer Erziehung zur Vorsicht werden sie schon wissen, wie man sich richtig benimmt.“ Zwanzig Schüler blickten kleinmütig auf das Bild des Fußballspielers. „Und Sie haben sich genau überlegt, was Sie damit anstellen? Sie sind sich im Klaren darüber, dass Sie eine ganze Generation zum Rassismus erziehen?“ Er wiegelte ab. „Das Verwaltungsgericht Koblenz hat gerade festgestellt, dass man Menschen mit einer anderen Hautfarbe gezielt durchsuchen oder in der Öffentlichkeit verächtlich machen darf, weil sie eine andere Hautfarbe haben. Man darf sie nur nicht als ‚ausländisch‘ bezeichnen. Es könnten ja auch echte Deutsche sein.“
Der Prospekt hatte das Schulungszentrum noch als eine Insel der Seligkeit gepriesen. „Natürlich sind auch wir ein Kind des Zeitgeistes“, bekannte Grüttner. „Aber sehen Sie es so: wir sorgen dafür, dass Ihre Abendnachrichten einigermaßen Kontur haben. Keine verwaschenen Mutmaßungen, wir haben eine klare Kante.“ Ich wusste nicht genau, worauf er hinaus wollte. „Der verängstigte Bürger dient Ihnen als Basis der Durchsetzungsfähigkeit?“ Grüttner schob mich zu Tür 34B.
Im Freigangzimmer saß eine nervöse junge Dame im grauen Kostüm. „Seien Sie vorsichtig“, warnte mich Grüttner, „sie hat ein Aufbaustudium absolviert und ist überreizt wie ein Rennpferd. Ein falsches Wort, und…“ Ich räusperte mich und wollte ihr schon die Hand entgegenstrecken, doch sie sprang mit einem markerschütternden Schrei auf. „Er hat eine Infektion“, kreischte sie, „wir sind alle in Lebensgefahr! Es gibt kein Heilmittel, weil wir nicht wissen, was er hat! Es ist alles so schrecklich, es ist eine Katastrophe! Tun Sie doch etwas!“ Grüttner schmunzelte, während ich sie entgeistert ansah. „Was sollen wir denn tun? Wenn Sie schon nicht wissen, worum es sich handelt, dann wissen Sie wenigstens, dass Sie sich gegen ein bisschen trockene Raumluft nicht schützen können? Und dann wissen Sie auch, dass es dagegen keine Abhilfe gibt?“ Sie zögerte keine Sekunde. „Aber Sie wissen doch gar nicht ganz genau, ob Sie nicht nicht nicht eine lebensgefährliche Infektion haben – dann können wir doch auch gar nicht sagen, ob Sie nicht…“ Ich winkte ab. Grüttner war zufrieden. „Prägen Sie sich das Gesicht ein“, riet er mir. „Sie hat die besten Voraussetzungen, um Staatssekretärin im Bundesinnenministerium zu werden.“
In einem kleinen Seitenverschlag stand eine Köchin und rührte Dosengemüse in eine wässrige Suppe. „Unsere Kantine“, erklärte Grüttner missmutig. „Aber wir könnten uns den Aufwand eigentlich auch sparen.“ „Warum“, fragte ich, „ist die Verpflegung bei Ihnen denn so schlecht?“ Er zog die Stirn in Falten. „Das nun gerade nicht, es ist eben wie im Finanzamt oder im Justizvollzug. Aber keiner will es.“ „Zu wenig Gewürze?“ Grüttner seufzte. „Angst vor Vergiftungen.“
Der Prüfungsvorbereitungskurs ließ gerade die Welt untergehen; der ominöse Maya-Kalender war auch hier anwesend. „Sie haben das Ding natürlich übernommen“, argwöhnte ich, „oder sollte da mehr dahinterstecken?“ Er lächelte maliziös. „Was wären wir ohne die Öffentlichkeit – und was wäre sie ohne uns?“ „Sie sehen es ja gerade“, wandte ich ein, „diese Leute sind doch nur noch geschaffen, ihre Informationen im Boulevard zu lesen.“ Grüttner grinste. „Sie werden dazu geschaffen, genau diese Informationen in den Boulevard zu schreiben. Ohne eine gewisse Neigung geht es nicht. Stellen Sie sich einmal vor, diese Leute müssten als Regierungs- oder Verlagsangestellte in einer Krisensituation plötzlich selbsttätig an zu denken fangen – furchtbar! Könnten Sie das etwa verantworten? Diese Leute müssen in ein paar Sekunden ein richtig gutes Schreckensszenario aus dem Ärmel schütteln können. Sonst würde ihnen keiner glauben. Skepsis ist kein guter Ratgeber. Angst – das könnte es sein.“
Um uns herum dröhnte gedämpftes Geschrei, die Nebenwirkungen des Unterrichts. Es war erdrückend. Schließlich zog ich einen Kurszettel aus der Tasche. „Wann“, fragte ich Grüttner herausfordernd, „hatte ich Ihnen den letzten Goldpreis gezeigt?“
Satzspiegel