„Stufe drei“, stellte Schluchterhenn fest. „Eindeutig Stufe drei.“ Der Computerfachmann tippte mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm. „Die einzelnen Statements lassen sich gewichten, so dass ein individueller Durchschnitt zu errechnen ist. Man muss ja schließlich wissen, wen man wählt und wem man beizeiten misstraut.“ Diese Datenbank also sammelte Äußerungen von Politikern aller Couleur, streng nach Gefährlichkeitsgrad gesondert und chronologisch verzeichnet. Eine Warndatei für die deutsche Demokratie.
B.L.Ö.D. kündete die Überschrift in der Suchmaske vom Namen der Datenbank. Ich schmunzelte. „Sie sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen“, tadelte Schluchterhenn, „es ist nicht so, wie Sie denken.“ „Sicherlich eine streng geheime Abkürzung“, belächelte ich seine Erregung. „Ja, dem ist so.“ Er unternahm nicht einmal den Versuch, mich auflaufen zu lassen. „Es ist ein ganz simples Akronym. Bekloppte Lautäußerungen, öffentlich dargeboten. B.L.Ö.D. Das reicht doch wohl?“
Er war wohl etwas eingeschnappt, deshalb versuchte ich, ihn durch mein Interesse zu gewinnen. „Sie haben diese Sammlung bestimmt aus denselben Gründen aufgezogen wie die Datenbank für die europäischen Fluggäste?“ Schluchterhenn nickte stumm. „Und sind die Sicherheitsaspekte diesmal zur Landesverteidigung oder zur Durchsetzung höherer Ziele, als es in den nationalen Demokratien denkbar wäre?“ Er sah mich entgeistert an. „Was erzählen Sie mir da? Wir sammeln den Schrott, weil wir es können! Glauben Sie ernsthaft, irgendwo wäre das anders? Oder hat man Ihnen erzählt, wir würden zu Ihrer Sicherheit sinnlose Untersuchungen anstellen?“ „Das nun gerade nicht“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen, „sinnlos mögen diese Arbeiten zwar sein, aber so genau hat es uns bisher noch niemand gesagt. Und von einer Warndatei erwarte ich wenigstens, dass sie landesweit für hysterische Weinkrämpfe sorgt.“
Schluchterhenn tippte ein paar Zahlen in die Maske. „Hier sehen Sie die Berechnungsgrundlage, und hier“ – er hieb einmal mit Nachdruck auf die Eingabetaste – „haben wir das erste Ergebnis der strukturierten Suche.“ Es handelte sich um Politiker, die Senioren kein künstliches Hüftgelenk mehr zubilligten (offensichtlich waren die Produkte der deutschen Prothesenindustrie nur noch den Jugendlichen vorbehalten, aber so weit denkt kein Politiker), die Halloween für satanistisches Zeugs hielten und auch ansonsten ihrer Haltung gegenüber den Minderheiten keinen Hehl machten. „Interessant“, sagte ich, „aber haben wir das nicht schon immer gewusst? Ein Blick in den Almanach, wir hätten ihn richtig eingeordnet.“ Schluchterhenn riss erstaunt die Augen auf. „Aber keinesfalls“, widersprach er, „keinesfalls. Sie müssen sich diese Äußerungen einmal im Kontinuum der bisherigen Inhalte ansehen.“ Und er rollte abwärts in der Leiste der gerade noch erträglichen, gerade nicht mehr, nicht mehr, kaum noch, endgültig, vollständig nicht mehr, keinesfalls mehr erträglichen Äußerungen. „Da haben wir die Forderung, bei religiösen Minderheiten die Meinungsfreiheit einzuschränken. Ist das aus der letzten Sammlung übriggeblieben?“ Er verneinte. „Bedaure, aber das ist aktuell. Auch wir haben ja ein Verfallsdatum.“ „Verstehe“, gab ich zurück, „Radiergummi?“ „Von solchen Ideen können Sie gerne Ihre Politiker überzeigen“, antwortete er ungerührt, „wir setzen auf die Realität: an gewisse Äußerungen wird sich niemand mehr erinnern, deshalb werden unsere Objekte auch in regelmäßigen Abständen gelöscht.“ „Sie lassen Gnade vor Recht ergehen“, nickte ich. Doch mein Verständnis von Verständnis war offensichtlich zu groß. „Es versaut uns die Bilanz und lässt uns nicht effizient und treffsicher genug arbeiten. Schauen Sie mal hier – Sie werden staunen.“
Mit wenigen Befehlen hatte Schluchterhenn eine komplette Hitliste erstellt. „Hier haben Sie Ihre Qualifikationsmerkmale“, sagte er trocken. „Ein paar Idioten, die nicht wissen, wie die Verfassung funktioniert, ein Außenminister, der die Berliner Stadtreinigung von Arbeitslosen arbeitslos machen will, ein Innenminister – ach, Sie sehen es ja selbst.“ Das verblüffte mich. „Sie werden doch das alles nicht zum Vergnügen sammeln, auch wenn Sie eine Bundesbehörde sind?“ Überlegen lächelte er. „Natürlich nicht. Wir sind ja letztlich auch nur von den Parteien finanziert. So wie alles in diesem Land. Und diese Parteien wollen eben die richtigen Kandidaten in die Wahlen schicken.“ Ein Klick, dann poppte ein Profil auf. „Langweiliger hatten Sie’s nicht“, motzte ich, doch Schluchterhenn kümmerte das nicht. „Das war so gewollt. Die Wahl galt ja von Anfang als verloren, da wollte man eben den optimalen Kandidaten ins Rennen schicken.“
Eine Rangliste von dümmlichen Bemerkungen quoll mir entgegen, hier forderte einer Streusalz für Radfahrer, dort hagelte es Spenden für Betrüger. „Bevor man einen Politiker auf die Öffentlichkeit loslässt“, informiert mich Schluchterhenn, „klopft man ab, ob der Mensch komplett sein Gehirn ausschalten kann. Man braucht das ja für den üblichen populistischen Pragmatismus. Wer da nicht absolut schmerzfrei agiert, der ist ja sofort raus. Und so viel Unsinn, wie die jetzt schon von sich geben, meine Güte – wer soll da schon den Überblick behalten?“ „Sie sammeln also sämtliche Informationen über Fehlleistungen von Politikern, um die Publikumswirksamkeit von Vollidioten in einem Publikum von Vollidioten abschätzen zu können?“ Schluchterhenn nickte einfach, nicht mehr und nicht weniger. „Und warum heißt das Ding nun Warndatei?“ Er zuckte zusammen. „Erzählen Sie es niemanden“, sprach er hastig, „aber wir führen diese Untersuchung seit Jahren durch. Natürlich sammeln wir auch Material über die Mitbewerber.“ Schluchterhenn errötete heftig. „Wir müssen doch wissen, wer Kanzlerkandidat wird.“
Satzspiegel