Schizovision

22 05 2012

Siebels fuhr sich nervös durch die Haare. „Ich konnte nicht anders“, sagte er und zog hastig an seiner Zigarette. „Es ging nicht – mit Maske und Beleuchtung hätte er seit einer halben Stunde da sein müssen.“ Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Das kriegen wir hin. Wer bin ich eigentlich?“

Der TV-Macher war völlig aufgelöst. „Er hat nicht einmal abgesagt! Wir können doch so diese Sendung nicht – senden, das geht doch…“ „Es ist eine Talkshow“, sprach ich auf ihn ein, „nichts als eine Talkshow, die sich vermutlich versendet, wenn Sie nicht so ein Aufhebens darum machen würden.“ Siebels war noch immer nicht bei sich. „Er hätte ja wenigstens absagen können – er hat nicht einmal abgesagt!“ „Das hatten Sie schon gesagt“, gab ich zurück. „Jetzt erklären Sie mir freundlicherweise noch, worum es geht und für wen ich mich in dieser Sendung ausgeben soll.“ Er hielt mir ein Papier hin. „Kenne ich nicht.“ Siebels stöhnte auf. „Hätte ich mir ja denken können! Diese Partei hat nicht einmal genug Personal, um die Kernthemen zu beackern! Ich kenne den übriges auch nicht, scheint ein Hinterbänkler zu sein. Also Sie gehören zum liberalen Flügel der Liberalen, damit Sie Bescheid wissen. Die anderen Gäste sind Denkmann – ja, der Denkmann.“ Ich rümpfte die Nase. „Sie stimmen ihm teilweise zu, manchmal allerdings nur unter Vorbehalt.“ „Hümpel“, stieß ich angewidert hervor, „Kardinal Hümpel. Was macht dieser Drecksack in einer Talkshow? Und was mache ich in einer Show, in der so einer sitzt!?“ Siebels winkte lässig ab. „Sie werden schon mit ihm zurechtkommen. Er ist schwerer Trinker, homosexuell, und hat eine Vorstrafe wegen Scheckbetrugs.“ „Warum sollte ich mit ihm fertig werden?“ „Er weiß, dass Sie das wissen.“

Die Titelmusik verklang, während Nöllmeyer, der langweiligste Fernsehsandmann aller Zeiten, ansatzlos zur Sache kam: die Gesellschaft ist am Ende, denn die Steuern sind zu hoch, das Land ist von einer schweren Identitätskrise bedroht, da nicht mehr genug geglaubt und zu viel nachgedacht wird. Mein Nebenmann, Wirtschaftswissenschaftler oder anderweitig als Kabarettist tätig, krümelte ein Pfund Allgemeinplätzchen hervor. Ich wurde schläfrig. Das war nicht angenehm.

„Und wie würden Sie die gegenwärtige Lage in Europa beschreiben?“ Ich schrak auf. Hastig suchte ich die Kamera. Nöllmeyer musterte mich genervt. „Was Herr Denkmann sagt“, stammelte ich. Der riss empört die Augen auf. „Aber ich hatte doch noch gar nicht…“ „Wir müssen unbedingt in dieser Lage, die ich übrigens aus mehreren Gründen – ich komme noch darauf zu sprechen – und wenn ich sie schon als eine ernste Situation, die wir alle hier innerhalb und außerhalb, das sollte uns hier und heute nicht auseinanderdividieren, jedenfalls kommen wir mit Lösungen aus dem 20. Jahrhundert nicht sehr viel weiter, und gerade das ist etwas, was wir verinnerlichen müssen. Die Regierung sollte hier endlich mal klar Stellung beziehen!“ Täuschte ich mich, oder war der Kameramann gerade ein bisschen zusammengezuckt?

Der Kardinal schwadronierte ein bisschen über die Verantwortung der Kirche, die sicher innerhalb kommender Generationen praktische Auswirkungen haben dürfte (Denkmann popelte sich unterdessen zwischen den Fingern herum), da fiel ich ihm ins Wort. „Sie können stolz sein auf Ihre Haltung“, pfiff ich den Gottesmann an, „Drei Jahre Diskussion…“ „Fünf Jahre“, unterbrach er mich mit hoch erhobener Nase, „und das wissen Sie.“ „Umso schlimmer“, höhnte ich, „fünf Jahre lang leere Versprechungen, und dann kommen Sie mir hier mit einer Selbstverpflichtung, die noch nicht mal in Ihrem Laden gilt? Lächerlich!“ Kardinal Hümpel wurde aschfahl, was ich durchaus verstand, desgleichen erblich Nöllmeyer zusehends.

„Psst!“ Siebels hatte sich auf allen Vieren quer durch die Kulisse unter meinen Stuhl gerobbt und stecke mir einen Kassiber zu. Ich wurde also laut Bauchbinde als Mitglied der Konservativen geführt. „Machen Sie was“, flehte er mich an. „Sie sorgen noch für eine Regierungskrise!“ Warum eigentlich nicht? Ich zwinkerte Siebels zu. Jetzt oder nie.

„Was wir brauchen“, röhrte ich, „ist eine entschlossene und handlungsbereite Regierung! Wir sollten uns nicht länger auf ideologische – lassen Sie mich ausreden! Eine nachhaltige Politik, auch unter dem Gesichtspunkt einer sozialen und in der Wirtschaft verbindlichen…“ „Sie haben ja gar kein Recht, das zu sagen!“ Der Kardinal ballte vor Wut die Faust. „Aber Sie“, antwortete ich scharf, „in welches Amt waren Sie noch mal gewählt worden? Beteiligen Sie sich mit konstruktiven Vorschlägen an der Diskussion oder halten Sie einfach die Klappe!“ „Wir lassen uns das nicht bieten“, krähte Denkmann, „das wird ein Nachspiel haben!“ Mit glasigen Augen starrte Siebels aus den Aufbauten. „Ein Nachspiel wird das haben! Ich werde…“ „Verschonen Sie mich doch mit Ihrem rhetorischen Tischfeuerwerk“, wies ich Denkmann zurück. „Das parteipolitische Geplänkel muss einmal ein Ende haben, wenn die Lage ernst wird, und sie ist ernst! Wir dürfen über die Fehler und Versäumnisse dieser Regierung nicht länger…“ „Sie werden jetzt auf der Stelle…“ Nöllmeyer sah aus, als wollte er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Nur Siebels war bester Laune.

Der Geistliche hatte sich in eine Abseite verkrümelt und kippte hastig den Inhalt einer Taschenflasche in sich hinein. Kameramann und Beleuchter kümmerten sich nicht mehr um uns. Siebels rieb sich die Hände. „Großartig!“ Ich nickte geschmeichelt. „Man muss ja auch mal eine Politik mit menschlichem Antlitz zeigen. Wenn alles gut läuft, springe ich beim nächsten Interview für die Kanzlerin ein.“