Ganz in Ruhe

28 05 2012

04:54 – Die ersten Sonnenstrahlen erheben sich über dem Mezzopiano tirilierender Vögel. Sanft beginnt der Morgen in der Siedlung Ulmenstieg, Knapp oberhalb der Hörschwelle raschelt eine Ahnung von Wind durch die Bäume, lautlos sirren Insekten in der frühlingskühlen Luft. Nichts ist, das den Frieden stören würde.

04:55 – Mit elegantem Schwung landet eine streunende Katze auf dem Mülltonnendeckel am Rand des Grundstücks Pappelredder 36. Ein klar definierter Schlag auf den Kunststoffschild, der wegen übermäßiger Füllung des Kehrichtbehälters schräg steht und einen exzellenten Resonanzboden abgibt, dringt ans Ohr von Josef P. (79). Der Rentner schrickt aus dem Halbschlaf, tastet sich ohne Sehhilfe durch den Raum und stößt sich den rechten Fuß empfindlich an einem Stuhlbein. In verbissener Wut, seine noch schlafende Gattin Emilie (76) nicht zu wecken, humpelt er ans Fenster und schlägt es zornentbrannt zu. Das dumpf hämmernde Geräusch bricht sich hart an der gegenüberliegenden Fassade.

05:03 – Schlaftrunken zieht Peter L. (42) die Rollläden hoch. Dank einer defekten Arretierung am Mechanismus der Wohnzimmerscheibe gleitet die Abdeckung mehrmals ungebremst wieder in die Ausgangslage zurück. Damit gibt er den Einsatz für den akustischen Prolog.

05:11 – Sonores Brummen, rumpelndes Rattern, ein Sound wie ein vertikaler Schüttelrost – Guido H. (53) öffnet seine Fensterläden motorisiert. Das ist zwar dreimal so laut, dafür dauert es aber auch doppelt so lange. Die rechte Straßenseite des Pappelredders ist wach.

05:33 – Verärgert beschließt Lothar M. (39), den verdorbenen Tag am See zu verbringen. Mit seiner kompletten Angelausrüstung will er die Siedlung hinter sich lassen. Der Anlasser seines 14 Jahre alten Kraftfahrzeugs hilft ihm, die Nachbarschaft mit einem Orgelkonzert zu beglücken.

05:59 – Marvin O. (7) probiert eifrig sein Geburtstagsgeschenk aus. Zwar sind Friedrichs des Großen Solfeggien anblastechnisch anspruchsvoll, doch wird dies durch kreativen Fingersatz mehr als ausgeglichen. Der junge Musiker, seit 24 Stunden in Besitz einer Sopranblockflöte taiwanesischer Provenienz, holt das Letzte aus Mann und Material.

06:03 – Lucy, die dreijährige Bracke der Familie O. und ansonsten den Schönen Künsten gegenüber eher gleichgültig, äußert sich zum Flötengetön. Die umliegenden Grundstücke machen die interessante Erfahrung, dass ähnliche Frequenzbereiche durch Interferenzen einander verstärken können.

06:29 – Das Licht reicht Guido H., um sich der sonntäglichen Gartenpflege widmen zu können. Nach einem kurzen Inspektionsgang holt er den Laubsauger aus dem Keller und sorgt auf der Zufahrt zur Garage für Sauberkeit und Ordnung bis in den allerletzten Winkel.

06:48 – Frühzeitig verlässt Bernd L. (17) das elterliche Haus, um im akustischen Windschatten der Nachbarn zu seiner Freundin zu fahren. Der Zweitakt-Verbrennungsmotor nimmt regulär seine Arbeit auf, der Auspuff seines Motorfahrrades aber versagt zuverlässig den Dienst und röhrt jenseits des Grenzwertes. Der Pappelredder ab Hausnummer 25 sowie die Straßenzüge Ulmenstieg, Eschenring bis Abzweigung Lindenweg sowie Kastanienallee sind vor dem Verschlafen gerettet.

07:03 – Vollkommen unmotiviert beginnt die Pulsglocke der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Lillebror ihr dünnes Geläut. Für den Gottesdienst ist es wesentlich zu früh. Einige unentwegte Bürger springen dennoch ruckartig aus der Bettstatt, werfen sich in gesellschaftsfähige Kleider, deren Sitz auf dem Weg bis zur Grundstücksgrenze penibel kontrolliert sein will, und hasten zum Andachtsort.

07:15 – Angeregt von diversen Laub- und sonstigen Bläserkonzerten beschließt Karsten W. (35), seinen Kombi innerlich einer genauen Säuberung zu unterziehen. Der zu diesem Zweck verwendete Industriewaschsauger mit einer Leistung von 4200 Watt verströmt die Geräuschkulisse eines belebten Markttages in der Innenstadt von Kandahar.

07:37 – Heftige Fallwinde, Erdstöße oder nicht frei fließendes Chi, wer weiß schon den Grund? Die preiswerte Alarmanlage, die Frank R. (28) im Internet geschossen hat, bricht schon einen Tag nach dem Einbau in die Familienkutsche in gellendes Gehupe aus. Auch beim vierten Mal.

08:31 – Die schüttere Gemeinde in St. Lillebror ist nachhaltig verstört, da trotz fortgesetztem Läuten noch immer kein Geistlicher erscheint. Auch sind die Altarkerzen noch nicht entzündet, da Küster Olaf T. (55), hauptberuflich Hausmeister, noch in seiner Dienstwohnung im Kellergeschoss der Christian-Wulff-Förderschule liegt und schläft – wie alle anderen rechtschaffenen Menschen.

08:34 – Die Schlaflosigkeit hat Josef P. fest im Griff. Er begibt sich in die Küche des Bungalows und bereitet sich einen Blasentee zu. Dann setzt der Alte den Fernseher in Betrieb; eine Aufzeichnung der volkstümlichen Show Lustige Musikanten nimmt seinen Lauf. Da P. sein Hörgerät nicht findet, passt er den Pegel des TV-Gerätes entsprechend an.

08:37 – Mit einem trockenen Fffumpp verschwindet ein Gegenstand in W.s Staubsauger. Nach einer kurzen Analyse der Situation stellt sich die Lage als bedrohlich dar: der für die Tochter besorgte Hamster, der aus Gründen der besseren Geheimhaltung vorerst im Fahrzeug verblieben war, muss im Staubsauger sein. W. ist verzweifelt.

08:45 – Sprechchöre hallen durch St. Lillebror: die Gemeinde beschließt, Abgesandte ins Pastorat zu schicken, um den Verbleib von Dieter D. (47) zu erfragen. Der Gottesmann befindet sich knapp zwei Kilometer Luftlinie entfernt bei seiner Geliebten und hatte vor, erst kurzfristig in die Pfarrkirche zurückzukehren.

08:50 – In heller Panik ruft W. die Einsatzleitung der Berufsfeuerwehr an. Da der Beamte am anderen Ende der Leitung lediglich „Habe ihn eingesaugt“, „Kriege ihn nicht mehr heraus“ sowie „Meine Frau darf auf gar keinen Fall etwas davon erfahren“ versteht, beschließt er einen sofortigen Einsatz. Augenblicke später verlässt ein Rettungswagen die Hauptwache.

09:05 – Mit Hilfe seines mechanischen Rasenmähers Republic F-84 zieht Egon J. (66) seine Bahnen durch den jungen Morgen. Der Weg des quietschenden Gartengeräts endet abrupt nach knapp dreißig Zentimetern, wenn sich die Mähspindel turnusgemäß in der Aufhängung verhakt und mit einem metallischen Knirschen wieder löst. Einige Stunden meditativer Arbeit stehen J. bevor.

09:17 – Die Volksmusikbeschallung hat einen Grad erreicht, der die guten Sitten empfindlich touchiert. Frieder A. (51) öffnet die Flügel der Fenster in seinem Arbeitszimmer und legt eine fetzige Scheibe auf. Schon schallt Bruckners wuchtiges Fortissimo in die wehrlose Natur.

09:20 – Mit Blaulicht und obligatem Folgetonhorn brettern Rettungstransporter und Polizeifahrzeug den Pappelredder entlang. Quietschende Reifen und schumachereske Kurventechnik begleiten ihren Rücksturz in die Wirklichkeit des Wohnviertels. Sie brauchen nur wenige Sekunden, um imposant ihre Kampfbereitschaft gegen akute Erkrankungen und Unfälle unter Beweis zu stellen. Das klärende Gespräch nach der Diagnose – W. konnte den Hamster, der den Ansaugvorgang unbeschadet überstanden hat und mit zerzaustem Fell in einem leeren Vogelbauer hockt, mit eigener Hand retten und widmet sich nun wieder der Kfz-Hygiene – ist eine größere Lärmentfaltung als der abziehende Konvoi.

09:37 – Mustafa H. (37) kontert das aufreizende Spindelgeräusch des nachbarlichen Handmähers mit motorisierter Zweitstimme. Sonor brummt der Gartenrasierer über den gepflegten Zierrasen; eine Mahd ist derzeit nicht notwendig, das verringert den Schallausstoß jedoch nicht.

09:43 – Küster Olaf T. hat St. Lillebror erreicht. Er stellt sein Fahrrad am Pastorat ab und betritt das Gotteshaus durch die Sakristei, wo er das Läutwerk durch Herausdrehen der Sicherung abstellt. Innerhalb weniger Minuten verlassen die Gläubigen die Kirche und gehen nach Hause.

10:05 – Zwei Bruckner-Scherzi sowie das kontinuierliche Alarmhupen zermürben die Konzentrationsfähigkeit von Tobias B. (44). Der Lehrer kann trotz Doppelverglasung und Ohropax keine Sozialkunde-Klausuren korrigieren, daher beschließt er, die Frustration über seine scheiternde Beziehung mit anderen Mitteln auszuagieren. Er schnappt sich die Kettensäge und bearbeitet vor dem Haus das Brennholz für die kommende Wintersaison.

10:19 – Mustafa H. ist kaum mit der ersten Hälfte seines Gartens fertig, als er vom benachbarten Grundstück tatkräftige Hilfe bekommt. Folkhardt N.-R. (53) trimmt seinen Zierliguster chirurgisch präzise vermittelst seiner neuen benzinbetriebenen Heckenschere. Ein vierfach federgelagertes Griffgestell mit ergonomisch geformten Polstern garantiert ihm die vibrationsfreie Arbeit an der Eigentumsbegrenzungsflora.

10:32 – Das Hupen der Alarmanlage nimmt bedrohliche Ausmaße an. Schichtarbeiter Heiko A. (39) ist mit seiner Geduld am Ende und beschließt, dem Spuk ein Ende zu setzen. Mit einem Kuhfuß bewaffnet betritt er die Straße und drischt schreiend auf das Kraftfahrzeug ein.

10:40 – Vorgetrocknete Fichte in bester Qualität ist Gernot F. (40) gut genug für sein Gartenhaus. Der ambitionierte Hobbybauherr bringt seine elektrische Kreissäge in Stellung.

11:06 – Auf dem Bolzplatz am Rande des Rotbuchenstiegs landet ein Rettungshubschrauber. Es muss diverse Kommunikationsschwierigkeiten in der Abstimmung mit der Einsatzleitstelle gegeben haben, der Hamster schläft inzwischen friedlich in W.s Garage. Erhebliche Schallentfaltung begleitet den Wiederaufstieg des Helikopters, der zur Orientierung noch mehrere Runden über dem Wohngebiet dreht, knapp oberhalb der Dachfirste.

11:09 – A. hat das immer noch hupende Auto zur Hälfte in Trümmer gehauen. Aufgrund einer kognitiven Dissonanz halten die Anwohner den Krach für einen Bestandteil der Volksmusik und schreiten nicht ein.

11:21 – Nach mehrmaligem Nachmessen und ausgiebigen Trockenübungen setzt F. den ersten Schnitt. Bedauerlicherweise gerät die Stromleitung in den Arbeitsbereich der Tischkreissäge. Jäh erstirbt das muntere Geräusch. Der Häuslebauer bleibt ratlos.

11:33 – Entnervt von der andauernden Berieselung mit Heimatkitsch beschließt Dennis Z. (19), sein eigenes Musikprogramm mit den Nachbarn zu teilen. Der ans Fenster gerückte Subwoofer lässt die Sägezahn-Basslinien der Best-of-Schranz-CD klar definiert hervortreten. Die satt pumpenden Beats hinterlassen deutliche Spuren im Wohnumfeld; ein reizvolles Craquelé überzieht den Verputz der Nachbarhäuser.

12:03 – Gernot F. gibt nicht auf. Die Balken müssen gekürzt werden. Eine Pendelhubstichsäge ist das Instrument seiner Wahl. Tatsächlich gibt das altersschwache Gerät erst kurz vor der Vollendung des Schnitts auf.

12:24 – Heiko A. lässt von dem inzwischen total demolierten Auto ab und zieht sich unter düsteren Drohungen in sein Haus zurück. Die Nachbarn können sich später an nichts mehr erinnern; sie sagen aus, es sei einfach zu laut gewesen für ein klärendes Gespräch.

12:34 – Unrhythmisch, aber gut hörbar fällt der Spielmannszug Groß Obereifelsbüttel 1873 e. V. in den Pappelredder ein. Mit Liedgut wie Rivers of Babylon und Einmal am Rhein macht sich das üppig besetzte Ensemble bemerkbar. Ewald K. (96) greift hektisch zum Fernsprecher, um den Einmarsch sowjetischer Truppen zu melden. Keiner bemerkt, wie A. im Klangschatten der Trompeten mehrere weiße Kanister auf dem Gehsteig abstellt.

12:55 – Ganz in seine eigene Welt versunken schwebt Julian C. (14) durch das Jugendzimmer; er imaginiert sich in ein virtuoses Gitarrensolo, träumt sich auf die große Konzertbühne und stellt sich vor, der bejubelte Star zu sein. Im Eifer der Luftgitarrennummer verhakt der Pubertierende sich mit dem Bein im Kopfhörerkabel. Die Klinke entgleitet im Nu der Buchse am Verstärker, und schon Sekunden später wummert ein Death-Metal-Inferno auf die Straße. Ingo S. (34) wird sich nach dem Erwachen aus dem Koma nicht mehr erinnern, warum er das Steuer verrissen hatte.

13:03 – Hektisch läuft Heiko A. den Pappelredder entlang, in der Hand eine Pappschachtel. An der Einmündung Zirbelkieferweg reißt er ein Zündholz an, wirft es zu Boden und rennt wie von Sinnen in Richtung Hauptstraße.

13:04 – Die Zündschnur ebnet den Weg, elf Kanister mit einer brennbaren Flüssigkeit explodieren im Abstand von jeweils wenigen Sekunden. Die Siedlung Ulmenstieg ist für einen Augenblick still, nur in den Ohren von Josef P. hält sich hartnäckig ein lästiges Pfeifen. Etwas verwirrt tschilpen einige Singvögel in den Überresten des Laubbaumbestandes. So endet der Morgen in einer gepflegten Reihenhaussiedlung, deren Bewohner einfach nur die beschauliche Ruhe eines Sonntags genießen wollten.