Wahrsagerei

23 08 2012

Die Empfangsdame bei Trends & Friends servierte noch einen Kaffee. Mandy Schwidarski würde sicher jeder Augenblick kommen. Auch der Kunde sei bereits im Haus gesichtet worden. Ein ganz entspanntes Meeting, um eine Limonadenmarke auf dem europäischen Markt zu etablieren. Vor den Fenstern zwitscherten die Vögel in der Sonne. Warum nur starrte Minnichkeit mich aus großen, angsterfüllten Augen an? Und wer war diese Dame?

„Behalten Sie Platz“, begrüßte er mich, „Frau Schwidarski telefoniert eben noch mit Motschmann & Zuckersack, Sie ist jeden Augenblick hier.“ Damit wandte er sich um. Hilflose Gesten begleiteten seinen Versuch, mich der mittelalten, mitteldicken, mittelgrauen Person im mittelmäßig geschnittenen Kostüm vorzustellen. „Darf ich Ihnen Heidegundis Prätorius-Wüppenstiehl…“ „Frau Heidegundis Prätorius-Wüppenstiehl“, unterbrach sie ihn spitz. „So viel Zeit sollte schon sein, meinen Sie nicht?“ Ich machte versteckte Handzeichen, weil ich mir nicht ganz sicher war, ob sie die Buchprüferin oder aber seine Bewährungshelferin sei; so oder so, sie vermittelte den Eindruck einer strafverschärfenden Auflage. „Nichts dergleichen“, stöhnte Minnichkeit, „sie ist die Ethikbeauftragte.“

Ich reichte ihr die Hand zur Begrüßung. „Ihre Krawatte ist ekelhaft“, teilte sie mir vollkommen unbewegt mit. Hinter ihr stand Mandy, doch das schien Frau Prätorius-Wüppenstiehl nicht weiter zu stören. Genau genommen trug ich diesen rostroten Binder mit den babyblauen Streifen auch nur, um der Agenturleiterin eine Freude zu machen; schließlich war dies Ding im vergangenen Jahr ihr Weihnachtsgeschenk gewesen. „Wissen Sie“, gab ich zurück, „ich mag Menschen, die sich ihre natürliche Spontaneität erhalten haben und immer sagen, was sie denken.“ „Ich denke nicht“, knurrte sie. „Ja, den Eindruck hatte ich auch gerade“, stach ich sie in die Seite, doch sie schien das nicht zu stören. „Als Ethikbeauftragte habe ich für die Einhaltung der Wahrheit zu sorgen. Ich dulde keine Verfälschung oder Unterdrückung der Wahrheit.“

Herr Kindermann hatte zwar einen Sekretär mitgebracht, doch der störte kaum. Er schreib eifrig auf einem kleinen Block herum. „Vor allem die Flasche steht im Vordergrund“, schwadronierte der Fabrikdirektor, „wir hatten an eine völlig neue, dabei aber doch sehr gewohnte und vertraute Form gedacht, nicht direkt rund, eher so bauchig und auch richtig schlank und dabei sehr handlich ganz dezent, also sehr unauffällig. Haben Sie schon eine Idee?“ Minnichkeit hatte noch kaum Luft geholt, da fuhr ihm die Aufpasserin in die Parade. „Das geht ja alles gar nicht. Sie machen unerfüllbare Vorschläge, das kann so nicht gelten. Denken Sie genauer nach, präzisieren Sie Ihren Arbeitsauftrag.“ „Das hier ist ein Brainstorming“, zischte ich. „Wir ordnen die Gedanken später, und Sie halten jetzt den Mund.“ Kindermann war sichtlich indigniert. „Sie wissen“, ätzte er, „ich muss nicht hier arbeiten lassen, wir haben eine Menge Agenturen, die das alles sehr gut können.“ Mandy Schwidarski setzte ihr süßestes Lächeln auf. „Und jetzt beruhigen wir uns alle wieder.“ Ihre Stimme zitterte unmerklich. „Alles in Ordnung, es ist noch nichts passiert!“

„Wir haben da mal zwei Ansätze vorbereitet“, übernahm ich den Ball. „Die traditionelle Variante, gut für erfrischende Zitrusaromen, gelb bis grünlich oder leicht rosa, hätten wir hier in der Produktlinie Squotch, während unser klares Getränk mit ausgefallenen Geschmackskombinationen auf den Namen Blubbr hört.“ „Also könnte man Mandarine-Apfel oder Ananas-Süßkartoffel auch als transparente…“ „Die Namen haben nicht genug semantischen Gehalt.“ „Liebe Frau Prätorius, das…“ „Ich bin nicht Ihre Liebe“, knarzte sie, „und ich heiße Prätorius-Wüppenstiehl.“ Kindermanns Stift knickerte erregt mit dem Kugelschreiber (wahrscheinlich wusste er gerade nicht, welchen Teil des Gesprächs er notieren sollte), Minnichkeit knetete entnervt seine Fingerknöchel. „Außerdem ist diese Limonade ungesund.“ Mandy begann zu hyperventilieren. „Diese ganzen Aromastoffe und der Zucker sind gerade für Kinder und jugendliche Verbraucher nicht geeignet. Wahrscheinlich wird auf der Verpackung gar nicht darauf hingewiesen.“

Kindermann, seines Zeichens der führende Bio-Hersteller seiner Branche, knirschte hörbar mit den Zähnen. „Das Getränk geht an eine erwachsene Zielgruppe! Die trinken sonst Holunder und Litschi und das hier ist zuckerfrei, hören Sie? Zuckerfrei!“ Sie war nicht im mindesten beeindruckt. „Aber es ist Limonade, und wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass natürliche Frucht…“ Kindermann hieb mit den Fäusten auf dem Tisch herum. „Das hier ist ein Öko-Getränk“, röhrte er, „hören Sie? Öko! Bio! Gesund!“ „Wir dürfen die Wahrheit aber nicht…“ „Wussten Sie eigentlich“, sprach ich sie an, „dass Sie mit diesem billigen Parfüm den Körpergeruch gar nicht überdecken?“ „Ja aber…“ „Sie haben seit zwei, nein: drei Tagen schon keinen Kontakt mehr mit Wasser und Seife gehabt. Schlimm, wirklich.“ Sie lief krebsrot an. „Was fällt Ihnen ein!“ „Wir haben hier für die Einhaltung der Wahrheit zu sorgen. Keine Verfälschung oder Unterdrückung der Wahrheit, wenn ich bitten darf.“

Mandy war zufrieden, Kindermann und Minnichkeit freuten sich um die Wette. Wobei sich der Limonadenfabrikant im letzten Augenblick noch für einen anderen Namen entschieden hatte. „Es klingt ehrlicher“, meinte er. „Um der Wahrheit die Ehre zu geben.“