Ausnahmezustand

9 09 2012

für Eugen Roth

Ein Mensch lebt friedlich und inmitten
von Nachbarn, wo er wohlgelitten.
Er gilt als hilfsbereit und gut,
zeigt großes Herz und frohen Mut,
ist liebenswert und wohlgesittet,
und wenn man ihn um etwas bittet,
ein Ei, ein Besen oder mehr,
dann schenkt er es freigiebig her.
Er hilft und zeigt fürwahr Geduld,
spricht nicht von Rückstand oder Schuld,
denn er verlangt gar nichts zurück.
Doch mindert dieses nicht sein Glück,
er weiß, was man einmal verleiht,
kommt nie zurück. Für alle Zeit
bedauert man, dass man es gab,
und Reue folgt uns bis ins Grab.
Auch wenn ein andrer dabei denkt,
es sei nicht klug, er schweigt und schenkt.
Dann einmal kommt die Nachbarin
und deutet mit dem Finger hin
auf ihre Fenster, wo Gardinen
ganz offenbar zu fehlen schienen.
Sie fragt den Nachbarn darum nett,
ob er nicht eine Leiter hätt’.
Sein Lebtag kam kein Gegenstand
als Leihgabe aus seiner Hand,
und dieses spricht er deutlich aus,
und wirft sie glatt aus seinem Haus.
Sie fragt, sie bettelt nachgerade.
Da wird es ihm am Ende fade.
Er resigniert ganz still und leise
und sagt, er gäbe, ausnahmsweise,
weil sie es sei, die Leiter her.
Schon kommt der Fluch, an Folgen schwer:
da sitzen im Salat die Schnecken.
Mit Schneckenkorn will er sie schrecken,
doch dies bemerkt er, wie fatal,
steht ganz weit oben im Regal,
und wie er sich auch reckt und dehnt,
und wenn er sich auch aufwärts lehnt,
kommt ohne ein Podest nicht weiter,
kurzum: jetzt braucht er seine Leiter.
Damit jedoch noch nicht genug,
das Schicksal naht sich Zug um Zug,
verlischt die Birne an der Decke,
braucht er ja auch zu diesem Zwecke
die Leiter, um sie auszuschrauben.
Er blickt wie einst der Fuchs auf Trauben,
die hoch und höher vor ihm hängen
und ihn in die Verzweiflung drängen.
Jetzt wird es schlimm. Schon kommen Leute,
sie fordern von ihm, dass er heute,
wie er einst schenkte, ihnen borgt.
Mit Wünschen ist er gut versorgt:
der eine will die Bohrmaschine,
der nächste zwei Pfund Margarine,
den dritten hört er sehr verwundert,
wie dieser sagt: „Ich brauch fünfhundert.“
So tönt’s von hinten, oben, vorne,
da platzt er schier in seinem Zorne.
Er weigert jedem seine Gabe,
er räumt und packt schon alle Habe,
bestellt den großen Möbelwagen
und ist verschwunden nach drei Tagen.
Dort lebt er froh, ihm sind beschieden
Gelassenheit und Seelenfrieden.
Er gibt nach altgedientem Brauch,
er hat gelernt und weiß drum auch,
bedenkt man’s in der Regel nicht,
dass eine Ausnahme sie bricht.