Es stand nicht zum Besten mit diesem Land. Eine dunkle Bedrohung lastete auf allen. Keiner war mehr sicher. Vor allem nicht die Senioren.
Unter den Rentenempfängern hatte sich Armut ausgebreitet, wie sie niemand hatte vorhersehen können – vorausgesetzt, man hätte sich damit auch beschäftigt oder wäre selbst verantwortlich gewesen für diese Entwicklung. Kümmerlich standen sie, die sich einst als Kellnerinnen und Tischler für die Mittelschicht gehalten hatten, an den Suppenküchen an; langsam gewöhnten sie sich an herablassende Behandlung und herrischen Befehlston der Reichen, die in ihrer Freizeit Gutes Tun spielten, und in ihrer großzügig bemessenen Freizeit gingen sie geringfügigen Beschäftigungen nach, putzten Toiletten, leerten Papierkörbe, spendeten Organe und besserten damit ihr kärgliches Auskommen ein wenig auf. Viel war es nicht, bis ein ehemaliger Busfahrer die Lösung fand. Einer Verwechslung war es geschuldet, dass er als mutmaßlicher Räuber in Untersuchungshaft genommen wurde. Die Folgen waren erheblich: Marmeladenbrot und Obst zum Frühstück, dazu Tee mit Milch, mittags eine Gemüsesuppe mit Nudeln, abends ein Hühnerbein mit Buttererbsen und Salzkartoffeln, dazu fließend warm und kaltes Wasser, Heizung und elektrisches Licht. Kostenlos. Eine Idee war geboren.
Vor allem kleinere Ladendiebstähle verzeichnete die Polizeistatistik, gezieltes Überqueren der Fahrbahn bei rotem Lichtzeichen (was nicht immer gut ausging und schnell wieder verschwand), doch meistens Bagatelldelikte. Die Warenhausdetektive schätzten die Situation völlig falsch ein. Manche von ihnen, die selbst arme Eltern hatten oder genau wussten, was sie selbst im Alter erwarten würde, führten die ertappten Langfinger unauffällig ab, steckten ihnen noch Kosmetik und Schokolade in die Taschen und schleusten sie durch den Hinterausgang auf die Straße, wo sie sich straffrei wiederfanden. Einzelne Verzweiflungstaten waren in der Presse hochgewirbelt worden. So hatte ein ehemaliger Elektroinstallateur, der unter den Augen der Nachbarn ein Auto in Brand setzen wollte, nach einer Stunde untauglicher Versuche noch immer keinen Erfolg, worauf ein Anwohner mit Benzin und Streichhölzern dem Schauspiel ein Ende setzte. Der alte Mann kam mit einer Verwarnung wegen Anstiftung davon. Das konservative Lager sah eine linksradikale Verschwörung.
In den städtischen Gebieten setzte sich nach und nach die Beförderungserschleichung als Mittel der Wahl durch. Zwar war auch hier immer damit zu rechnen, dass die Kontrolleure ein Auge zudrückten und den ertappten Schwarzfahrern einen Fahrschein unterjubelten, doch manchmal ging es auch gut. Nach der dritten erfolgreichen Kontrolle war der Gang vor das Gericht unausweichlich, und wer nicht zahlen wollte oder konnte,wurde sofort zu Freiheitsentzug verurteilt, schon, um rechtschaffene Bürger nicht zu verunsichern.
Die Insassen indes fanden für den Strafvollzug nur lobende Worte. Sauber und ordentlich sei es, hörte man allenthalben, die Mahlzeiten seien in Menge und Qualität ausreichend, die Bücherei verfüge über eine Tageszeitung und Rätselhefte, arbeiten dürfe man, und beim Hofgang schließe man hinter Gittern nettere Bekanntschaften als im Seniorencafé der Wohlfahrt. An herablassende Behandlung und herrischen Befehlston seien sie gewöhnt. Sie fühlten sich wie in Abrahams Schoß.
Man hätte es ahnen können. Die öffentliche Hand sparte einen Betrag an Grundsicherung, gab aber enorm viel mehr für den Strafvollzug aus. Es handelte sich in der Tat um eine Erschleichung von Leistungen. Bayerns Innenminister Herrmann tat, was er immer tat; er forderte Strafverschärfungen.
Aus organisatorischen Gründen war es nicht möglich, Westerwelles Vorschlag zur Eindämmung von anstrengungsloser Lebensqualität umzusetzen. Der ehemalige Vorsitzende einer Splitterpartei hatte Steuersenkungen für Steuerhinterzieher gefordert und vorgeschlagen, einsitzenden Rentnern keine Verpflegung mehr zu gewähren. Keine JVA war imstande, dies zu bewerkstelligen. Immerhin erzielte BILD einen kurzfristigen Erfolg wegen der Petition eines Feinmechanikers im Ruhestand, der ein Nachtlicht für seine Zelle wünschte. Der Blasenkranke wollte ohne Hilfe des Schließpersonals seine Toilette aufsuchen. Die Batteriekosten hielte sich in Grenzen, warfen aber ein Schlaglicht auf die deutsche Sozialpolitik. Sah so der Ruhestand der gesellschaftlichen Basis aus?
Auch die Kirchen ruhten nicht. In einem bewegenden Appell forderte der EKD-Vorsitzende Schneider die Politik auf, sich für ein sozialeres Miteinander einzusetzen, so wie in den christlichen Programmatik der Union verankert sei. Er mahnte eine bessere Ausstattung der Hafträume an.
Große Erleichterung verhieß auch die Initiative der SPD. Gabriel und einige gewerkschaftsnahe Gewerkschafter hatten beschlossen, so schnell wie möglich ein Thesenpapier für parteiübergreifende Diskussionen vorzulegen. Nach wenigen Wochen präsentierten sie ihren Kompromissvorschlag: die Delinquenten sollten durch den offenen Vollzug so schnell wie möglich wieder in die Gesellschaft reintegriert werden. Zur Einnahme der Mahlzeiten und für die Nachtruhe dürften die Rentner ihre Zelle verlassen, sie müssten nur die aus Gründen des Erwerbsanreizes nicht entlohnte Arbeit in der Anstalt verrichten. Zur Durchführung empfahl Steinmeier die Erfahrungswerte der Agenda 2010.
Einzig Ursula von der Leyen trug – einmal tut das ja jeder, auch wenn es noch so wenig verdient ist – einen kleinen Sieg davon. Die Grundsicherung musste nicht mehr in einem aufreibenden und kostspieligen Prozess von Sprachsteuerung umbenannt werden. Man sprach, jung und alt, nur noch von Knast IV, und jeder wusste, was gemeint war. Und dass es so gemeint war.
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