Katastrophenfernsehen

13 09 2012

Die Nachricht erreichte mich im Stadtpark. „LEUCHTFEUER STUDIO C“, verkündete das Display, „ANKOMME 14:30 GRUSS S.“ Es musste sich um ein mittleres Erdbeben handeln oder eine ausgewachsene Regierungskrise. Der alte TV-Fuchs hätte mich nicht einfach ins Herz der Medienproduktion beordert, wenn es nur ein wenig politischer Gesprächsstoff gewesen wäre.

Siebels biss hektisch auf dem Rührstäbchen herum. Noch immer hatte er seine Nikotinsucht nicht überwunden. „Sie kommen gerade zur rechten Zeit“, nuschelte der Fernsehproduzent und nuckelte seinen Automatenkaffee am Plastiklöffel vorbei, was zu unschönen Flecken auf dem sandfarbenen Überzieher führte. „Wir haben sie alle, heute sind sie da. Schauen Sie sich in Ruhe um, so schnell werden Sie dieses Personalaufgebot nicht mehr in einem Studio erleben.“ Hier und dort entdeckte ich ein bekanntes Gesicht – ausrangierte Talkshow- oder Volksmusikgrößen, die dritte Reihe der politischen Korrespondenten, ebenfalls jene Quotenfrau, die nach der Sportschau und einer Kindersendung in letzter Verzweiflung das Literaturjournal moderierte hatte, um festzustellen, dass sich ein Sprachfehler, Schielen und mangelnde Bildung nicht einfach durch Hintergrundmusik verbergen ließen. „Die hier?“ Er nickte. „Der letzte Versuch. Wenn die verreißt, schieben wir sie ab ins Radioprogramm. Oder sie muss den Börsenbericht moderieren.“

„Achtung“, rief es von rechts, „Aufnahme!“ Da stand einer der bekannten politischen Journalisten der Republik mit einer der bekannten unpolitischen Figuren; sie redeten offenbar aneinander vorbei, aber das sollte mich nicht stören. „Manchmal“, sagte ich spöttisch zu Siebels, „da habe ich den Eindruck, Sie sollten Ihren Laden ein ganz kleines bisschen mehr im Griff haben. Oder wie würden Sie diese misslungene Probe zwischen…“ „Das ist keine Probe“, schnitt er mir mit messerscharfer Stimme das Wort ab. „Das wird so gesendet. Ganz genau so.“

„Zur Stunde können wir noch keine genauen Angaben machen“, verkündete der Moderator mit mühsam unterdrückter Angst. „Alle verfügbaren Rettungskräfte sind derzeit in der Region zusammengezogen, Ärzte und freiwillige Helfer kümmern sich um die Bevölkerung, die die Nacht zum Teil im Freien verbracht hat, internationale Hilfe wurde der Regierung auf dem schnellsten Wege zugesichert – und doch, meine Damen und Herren, die Situation kommt nicht unvorbereitet, wir haben diese und ähnliche Ereignisse in den vergangenen Jahrhunderten weltweit mehrmals erlebt, und wir müssen hier und heute die Frage stellen, ob man nicht viel eher…“ „Bah“, winkte ich ab, „so viel Umstände für einen Erdrutsch in Portugal – hätte es nicht den Dienstwagen des Bürgermeisters getroffen, dann würde sich keine Sau dafür interessieren.“ Allein Siebels zog nur eine Augenbraue in die Höhe. Ich verstummte. „Wir haben eine große Anzahl von Todesopfern zu beklagen“, stöhnte die Korrespondentin vor einer nachtschwarzen Kulisse, die Bremen, Bangkok oder Baltimore sein mochte, „und die Fragen werden lauter, was die Behörden getan haben. Seit Jahren war die Gefahr bekannt, doch der drohende Verlust der Stimmen im Regionalparlament wird den Ausschlag gegeben haben, sich vorerst nicht um eine konstruktive Lösung zu kümmern.“

Ich war ziemlich ernüchtert. „Siebels“, fragte ich vorsichtig, „Sie wollen mir jetzt bitte nicht weismachen, dass Sie alle diese Sendungen in einer einzigen Probe in diesem Studio einstudieren, damit bei der nächsten Sturmflut ihre Leute antanzen lassen können?“ Mit müdem Blick sah er mich an; ich begriff, dies war keine Probe.

Unspezifisches Geschwafel quoll aus den Figuren, die sich abwechselnd vor der Kamera postierten. Eine aufwendig ungeschminkte Frau mit anspruchsvollem Doppelnamen erklärte in einem grammatisch fehlerhaften Halbsatz den Islam. Ein Physiker, der eigentlich mehr mit Astronomie zu tun hat, stotterte ein bisschen an der Kernschmelze entlang. Ein Arbeitsmarktexperte einer nicht mehr ganz so wichtigen Splittervolkspartei erläuterte den notwendigen Unterschied zwischen Verteidigungs- und Außenpolitik. „Und den Müll sehen wir und bei jeder Gelegenheit an?“ Siebels nickte boshaft. „Wenn es Ihnen bisher noch nicht aufgefallen sein sollte: ja, den Müll sehen Sie bei jeder Gelegenheit. Und das ist Ihre Schuld.“ „Hören Sie“, begehrte ich auf, „Sie können doch den Zuschauer nicht verantwortlich machen für diesen miserablen, sagen wir mal: Journalismus.“ Er rührte gelangweilt in seinem Kaffee. „Und wer entscheidet sonst, was angeschaltet wird? Zwingt Sie jemand, diese Sendungen zu sehen? Ist das Angebot an Büchern und Kinofilmen und Schallplatten nicht groß genug, um sich den Abend anders zu gestalten?“ „Man kann das doch wirklich – also ich meine, man muss doch ein Erdbeben anders als eine Wirtschaftskrise, oder meinen Sie – “ „Das ist der Fluch der Aktualität“, erläuterte er. „Wenn es wirklich einmal brennt, dann bleibt keine Zeit, die Experten zusammenzutrommeln, die einem erklären, wie so ein Erdbeben entsteht und was es in der Vordereifel anrichtet. Man produziert das hier wie einen Nachruf, und sendet es, sobald es gekracht hat. Und für die Standardantworten wird man sich ja wohl kein Bein ausreißen. Hauptsache, das eine oder andere bekannte Gesicht ist zu sehen.“

Der Moderator hatte den Anzug gewechselt. „Zur Stunde können wir noch keine genauen Angaben machen.“