Wahrheitsgemäß

17 10 2012

„Also wir sollten das mit der Mehrwertsteuer jetzt einfach mal so raushauen?“ „Machen wir. Keine Erhöhung.“ „Null Prozent?“ „Nada.“ „Und wenn das gelogen sein sollte?“ „Dann wissen wir es eh erst hinterher. Und bis dahin können wir noch prima Wahlkampf damit machen.“

„Sie sind der festen Überzeugung, dass im Wahlkampf die Wahrheit nicht viel zählt?“ „Aus Erfahrung.“ „Aber wäre das nicht gerade ein gutes Gegenmodell?“ „Sie meinen, wenn plötzlich jeder die Wahrheit sagen würde?“ „Vielleicht nicht jeder, es müsste nur einer mal damit anfangen.“ „Und wer soll das sein?“ „Wir könnten doch mal mit gutem Beispiel vorangehen.“ „Wie soll das denn funktionieren?“ „Indem wir einfach mal nur die Wahrheit sagen.“ „Wie – die Wahrheit?“ „Also mal nicht lügen, keine falschen Versprechungen, keine…“ „Und wer sagt genau, dass das falsche Versprechungen sind?“ „Also wenn die vor der Wahl erzählen, dass sie die Steuern senken und die…“ „Bitte, jetzt keine Geschichten mit der FDP. Das ist bei denen krankheitsbedingt.“ „Aber die haben es doch versprochen, oder?“ „Ja, aber die wussten vorher doch genauso gut wie die Wähler, dass das alles nicht geht?“ „Und warum wurden die dann überhaupt gewählt?“ „Es war doch vorher bekannt, dass sich manche nur wählen lassen, um nicht arbeiten zu müssen.“

„Aber das kann doch nicht alles sein. Das hieße doch im Endeffekt, dass die Wähler wirklich belogen werden wollen.“ „Stimmt ja auch.“ „Dann ist das ein abgekartetes Spiel?“ „Richtig. Und ich möchte gar nicht wissen, was Sie sagen würden, wenn man Ihnen überall die Wahrheit auftischen würde.“ „Trotzdem sollten wir doch mal damit anfangen.“ „Gut, wie Sie wollen. Was schlagen Sie vor? Eurokrise?“ „Das ja nun nicht gleich. Man könnte doch vielleicht eher…“ „Verstehe, Sie wollen also doch lieber hinter dem Berg halten damit.“ „Nein, ich will nur nicht, dass – also ich meine…“ „Wahrheit ja, aber bitte nur da, wo sie hinpasst. Hatte ich das richtig verstanden?“ „Was soll denn das? Ich meinte doch nur, wir müssen den Wählern nicht unbedingt alles auf einmal zumuten.“ „Sie muten es dem Wähler also nur auf einmal zu, wenn es dann irgendwann aufkippt?“ „Nein, so war das nicht gemeint, ich meinte nur, dass…“ „Dann setzen Sie darauf, dass er sich an schleichende Verschlechterungen seiner Lebensumstände besser gewöhnt, wenn er überhaupt nicht weiß, worum es sich handelt? Wo ist denn da bitte der semantische Unterschied zur gezielten Lüge?“ „Können Sie bitte mal mit Ihren ideologischen Hasstiraden aufhören? Das ist ja widerlich!“ „Bitte – ich hatte Sie ja nur beim Wort genommen.“ „Aber doch nicht im Wahlkampf!“

„Dann sind Sie also der Meinung, dass sich alles auch irgendwie als wahr oder falsch klassifizieren ließe?“ „Warum denn nicht?“ „Wie wollen Sie denn bitte den Wählern die Kreditkrise erklären?“ „Man muss ihnen ja auch erklären, was sie erwartet. Man muss ihnen ja auch erklären, was man vorhat, um die Krise in den Griff zu…“ „Mit anderen Worten: Sie erzählen, was Sie an Wunschträumen, an ideologisch gefärbten Rezepten und Vorschlägen der Lobbyisten parat haben.“ „Was haben denn meine Wunschträume damit zu tun?“ „Sie wollen den Wählern erzählen, was passiert, wenn die Realität genau so abläuft, wie es Ihnen in den Kram passt. Und das bezeichnen Sie als Wahrheit?“ „Man braucht doch aber gewisse Anhaltspunkte!“ „Das mag sein. Nur warum unbedingt Ihre?“

„Kann man denn gar nichts dagegen tun?“ „Nein. Ehrliche Politiker werden eben als unrealistisch wahrgenommen.“ „Und unrealistische?“ „Als ehrlich.“ „Das impliziert ja, dass Realismus unehrlich ist.“ „Keinesfalls. Unehrlichkeit ist nur realistisch.“

„Bevor Sie mir hier wieder den letzten Rest an Hoffnung zerstören, damit ist doch gar kein Wahlkampf mehr machbar.“ „Das ist nur die halbe Wahrheit, aber auch nicht falsch.“ „Was ist denn die andere Hälfte?“ „Dass damit überhaupt keine politische Diskussion mehr stattfindet.“ „Aber man wird doch wohl noch seine Meinung äußern dürfen!“ „Ach ja? Sie waren doch bis eben noch dagegen, weil die nicht immer zwangsläufig der Wahrheit entspricht.“ „Aber eine vernünftige Argumentation fußt doch immer auf objektiver Wahrheit.“ „Ach ja? Warum gibt es dann nicht nur eine? Ist die etwa alternativlos?“

„Die Bürger wählen, obwohl sie wissen, dass sie belogen werden.“ „Stellen Sie sich einen Kompass vor, der konstant nach Süden zeigt.“ „Und das halten Sie für demokratisch gerechtfertigt?“ „Das habe ich nicht behauptet. Aber wir kommen damit ganz gut zurecht, abgesehen davon, dass noch keiner versucht hat, es zu ändern.“ „Aber warum nicht?“ „Warum fragen Sie mich? und nicht ich Sie?“ „Man wird doch als Umstürzler verunglimpft, wenn man für die Wahrheit ist. Als Wutbürger! Dabei sind doch wir der Souverän!“ „Wenn das der Wahrheit entsprechen sollte…“ „Das ist die Wahrheit, verdammt noch mal!“ „… dann verstehe ich gerade nicht, warum Sie sich so aufregen. Dann müsste man doch das Evidente erkennen. Und dementsprechend handeln.“ „Aber wie denn? Im Wahlkampf?“