Er blätterte meine Papiere durch. Dann spitzte er mit Bedacht seinen Bleistift, bevor er sich entschied, doch lieber einen Kugelschreiber zu nehmen. „Sie haben noch nie in der Gastronomie gearbeitet?“ Ich schüttelte den Kopf. „Oder hatten Sie schon Kontakt zum Kaufmannsberuf? Nicht? Was soll ich da nur für sie tun?“ Er hatte es nicht leicht mit mir. Aber ich war ja auch das erste Mal in meinem Leben beim Berufsberater.
„Sie sind also kein Jurist?“ „Nein“, antwortete ich, „wie Sie sehen. Wäre es nach meinem Onkel Albert gegangen, dann – aber wie gesagt, ich hatte andere Vorstellungen.“ Er grunzte befriedigt. „Kein Jurist. Wir müssen demnach nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen.“ Ein gewaltiger Stapel Papier lag auf seinem Schreibtisch; vermutlich handelte es sich um das Verzeichnis sämtlicher existierender Berufe. Er würde mich zum Hofzwerg weiterbilden oder mir eine Stelle als Pansenklopper und Hitzläufer vermitteln, während meine Noten höchstens zu einer Lehre als Pfeifenbäcker reichten. „Sin Sie wasserscheu? Na großartig, dann haben Sie hervorragende Aussichten als Dachdecker. Oder haben Sie schon einmal von einem Dachdecker gehört, der ertrunken ist?“ „Ich bitte Sie“, protestierte ich, „wir machen das doch hier nicht zum Spaß – schlagen Sie mir einen vernünftigen Beruf vor, mit dem ich auf ehrliche Art und Weise meinen Lebensunterhalt verdienen kann.“ Er wog den Kopf; gedankenverloren spielte er mit dem Kugelschreiber. „Ehrlich – tja, da müssen Sie wohl ein paar Abstriche machen. Man kann sich seinen Beruf heutzutage nicht mehr unbedingt aussuchen, man muss nehmen, was kommt, und die Zumutbarkeitsregelungen sind auch wesentlich erweitert worden.“ „Sie meinen, ich müsste jetzt als Arbeitsvermittler arbeiten?“ Er lächelte leise. „Keinesfalls. Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie jetzt einen entscheidenden Schritt in Ihrem Leben gehen und sich für einen neuen Beruf öffnen, der Ihre gesamte Existenz verändern kann.“ Ich blickte ihn fragend an. „Werden Sie Politiker.“
Für einen Augenblick war ich recht konsterniert. „Sie können doch nicht einfach von mir verlangen, dass ich einen solchen Beruf ausübe – das geht doch nicht!“ Möglicherweise hatte ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, möglicherweise aber auch zu deutlich. „Was verstehen Sie denn unter dem Bruttoinlandsprodukt? Und was unter der Staatsquote? Und wo ist der Unterschied zwischen beiden?“ Ich errötete heftig. „Ich sagte Ihnen doch schon, ich verstehe wirklich nichts davon.“ „Ach was“, antwortete er gutmütig, „die meisten Wirtschaftswissenschaftler wären bei solchen Spezialfragen auch schon mit ihrem Latein am Ende. Damit stehen zwei Dinge schon mal fest: Sie haben nicht die geringste Ahnung von diesem Thema.“ „Und was wäre das andere?“ Er kicherte. „Sie wären der geborene Wirtschaftspolitiker.“
„Warum muss ich ausgerechnet als Wirtschaftspolitiker keinen blassen Schimmer haben von der Materie?“ „Ahnungslos müssen Sie so oder so sein“, klärte er mich auf. „Ob Sie nun Wirtschaftsminister oder Gesundheitsminister werden, das merken wir an unserem Einstellungs- und Kompetenzprofil. Wir haben damit nur gute Erfahrungen gemacht.“ „Ich bin doch nicht die FDP“, protestierte ich, „oder glauben Sie ernsthaft, dass ich an einen anderen Laden vermittelbar wäre?“ Er lächelte und spielte mit dem Kugelschreiber. „Nein, das sehen Sie ganz falsch. Das geht völlig an der Realität vorbei, und sobald Sie einmal die Gelegenheit hatten, unsere schwierig bis gar nicht vermittelbaren Interessenten von der FDP in Augenschein zu nehmen, werden Sie verstehen, dass das nicht unserem Profil entspricht. In deren Kompetenzprofil gab es große Lücken.“ „Lassen Sie mich raten: die Kompetenz?“ „Genau“, gab er zurück. „Das andere war das Profil, wenn Sie es genau wissen wollen.“
Er zog eine Menge Profile aus dem großen Stapel. Je nachdem, was ich nicht verstand, bot sich mir eine enorme Karriere. „Wenn Sie schon einmal gearbeitet haben – also richtig, nicht nur so getan, als ob – dann können Sie leider das Sozialressort nicht mehr übernehmen. Höchstens den Fiskus. Oder vielleicht das Bauministerium. Je nachdem, was Sie alles nicht gelernt haben. Danach geht’s ja meist. Also abgesehen von den selbstverständlichen Kleinigkeiten.“ „Welche Kleinigkeiten?“ Ich blickte ihn fragend an. „Beziehungen natürlich“, erläuterte er mir, „haben Sie gedacht, wir würden Sie so ganz ohne Beziehungen einstellen?“
Sie würden mich als Bauminister eingestellt haben – ich wusste nicht im Geringsten, worum s sich handelt – oder als Staatssekretär im Bundesinnenministerium, letzteres übrigens nur, weil mir versehentlich nicht einfiel, was ein Pfund Federn wog. „Denken Sie an die Bezahlung“, lockte er, „außerdem haben Sie Pensionsansprüche.“ „Und wenn ich diesen Beruf wirklich nicht ausüben kann, was mache ich dann?“ „Sie werden etwas falsch machen, je falscher, desto besser. Sie haben ja, wie gesagt, Pensionsansprüche.“ „Ich möchte Sie nur ungern enttäuschen“, gab ich zurück, „aber ich fürchte, es wird nichts damit. Ich würde dann doch lieber einen richtigen Beruf.“ Das musste ihn verwirrt haben. „Aber Sie haben doch einen?“ „Nein“, begehrte ich auf, ich würde lieber – wie soll ich sagen – arbeiten. Verstehen Sie mich?“ Er legte widerwillig den Kugelschreiber beiseite. „Ich habe wirklich alles bei Ihnen versucht, aber wenn Sie durchaus nicht hören wollen, gut. Hier ist noch etwas als Tellerwäscher. Ich habe alles bei Ihnen versucht, damit Sie merken: Arbeit macht frei. Und noch freier sind Sie, wenn Sie gar nicht erst arbeiten müssen. Sie nehmen jemandem den Arbeitsplatz weg – damit müssen Sie ab jetzt leben.“
Satzspiegel