Gernulf Olzheimer kommentiert (CLXXI): Verschwörungstheorien

26 10 2012
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Das hat sich der Hominide nicht selbst ausgedacht: die Grenzen seiner Erkenntnis sind die Grenzen seiner Welt. Und doch ahnt er, was sich hinter den Himmeln verbirgt. Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Gibt es da Fußball und Bier? Die Unsicherheit führt bei den langsam erwachenden Troglodyten zur stetigen Verfestigung der Urteile, will sagen: jede einmal gewonnene Erkenntnis taugt so lange, wie sie nicht direkt widerlegt wird (und selbst dann ist sie nicht auszurotten, woher kämen sonst die Vorurteile und Ammenmärchen), als einfach zu erlernendes Modell für den Kosmos. Der Jahrkreis der Vegetation, Werden und Vergehen der Generationen oder das Wunder der gezielten Schalläußerungen, das magisch Empfundene wird alsbald zum Metaphysischen oder gleich zur Religion; manche niederschwellig gezimmerte Angebote wie Politik oder Ideologie schöpfen aus derselben Suppe. Alles jedoch, was sich nicht mit Hilfe der allgemeinen Neigung zum Vereinfachen deuten lässt, jedes auch nur ansatzweise komplexe Phänomen wie Wetter, Spritpreis oder der Lauf der Geschichte, alles das bläht sich auf zu dämonischer Größe, wird Teufel in vielerlei Gestalt, und weil man es doch fassen und bannen muss, gibt man einem höchst irdischen Widersacher die Schuld. So hat man nicht nur einen, dem man den Kampf ansagen kann – dem Satan kann man schon trotzen, es ist nur nicht gerichtsfest – sondern auch Feind, Lebensinhalt und immer einen Grund der Rechtfertigung von Gewalt, wirrem Gefasel und mannigfaltigem Ritual. Die einen nennen es die Aufdeckung aller Geheimnisse, die anderen eine Verschwörungstheorie.

Denn die Aufklärung erfordert Intelligenz – wer die durchschnittliche Hirnausstattung nicht als zu klein ansieht, der tut dies aus einem bestimmten Grund nicht. Zu Eiswölkchen, die Flugzeugdüsen entströmen, hat der durchschnittliche Depp keine nennenswerte Beziehung; er begreift sie weder physikalisch noch kann er nachvollziehen, dass ihre Entstehung nicht von einem vom Piloten bedienten Kippschalter abhängt. Er hält sie für gleisnerisches Handeln und unterstellt den Fliegern, Gift und Gülle über die Land zu pusten – dass das Zeug spätestens in der Brennkammer der Jetmotoren Geschichte wäre und in der Atmosphäre bliebe, falls es nicht völlig unspezifisch auch auf eigenem Territorium herunterregnete, das interessiert den Cheftrottel weniger. Er malt lieber Plakate, um CIA und Nahrungsmittelkonzerne, die Regierung oder das Fernsehen für alles Böse auf der Welt verantwortlich zu machen. Sollte es je ans Licht kommen, er hätte es immer schon gewusst. Womit wir bei den mit leichter Hand geschwiemelten Ammenmärchen wären.

Was als dumpfe Bedrohung wahrgenommen wird, das ruft den archaischen Reflex des bornierten Urmenschen hervor. An sich kann es den Brezelbiegern dieser Welt völlig wumpe sein, ob die Amerikaner ein paar Milliarden in die Raumfahrt gestopft haben oder in eine perfekt inszenierte Illusion; doch die gemeine Heißtröte lebt ihr Misstrauen gegen jede Art von Obrigkeit, Wissenschaft sowie tatbeteiligte Erdtrabanten aus im lautstarken Protest, weil die Mondlandung einfach nicht wahr sein darf. Und sie ist für ihn nicht wahr. Akribisch pfriemelt er sein naturwissenschaftliches Raster auseinander, warum die Fahne flatterte, die Triebwerke keine Flammen warfen und kein Astronaut im Strahlengürtel verschmurgelte. Er kapiert nichts, will aber alles erklären können. Außerdem weiß er sowieso alles besser. Und da die USA eh nur vom militärisch-industriellen Komplex und den Großbanken regiert werden, sollte man alles anzweifeln, was sie als wahr verkünden. Auch und vor allem dann, wenn es sich um Mittelstufenphysik handelt.

Verschwörungstheorien sind die McArgumente der Behämmerten. Eben das macht sie so angenehm für das interessierte Personal, für die politische Instrumentalisierung, für Kirchen, Parteien und weltanschauliche Vereinigungen, die ihr eigenes Denksystem sauber halten wollen und sich deshalb gegenseitig sowie reihum mit Schmutz bewerfen. Etwas Göttliches steckt in ihnen, nicht wenige der Hirnblubbermuster stellen ein arkanes Kollektiv, die Weltregierung aus Illuminaten, Freimaurern und OPEC auf den Opferaltar, sie tanzen mit Freudengeheul um den Götzen aus Schmierseife und wissen doch, dass wahrscheinlich jeder der anderen ihre Dänisch-Dubiose Reichskirche, die Partei des Fliehenden Widerstands und den Bundesverband zur Abschaffung von Raum und Zeit als Schöpfer des Übels ansieht, der Kennedy hat ermorden und die unzerstörbare Glühlampe verbieten lassen. Und das Gegenteil ist auch richtig, weil es falsch ist.

Herrschaft bedarf der Verschwörungstheorien, sonst könnte sie nie das dialektische Spiel mit erlaubter Aggression und unterdrückter Gewalt dominieren. Gewalt wird durch Hass auf indifferente Gruppen erlaubt und findet ein passendes Ventil, von den Kreuzzügen bis zu den Novemberpogromen, von Bielefeld bis Barschel. Wir wissen zwar, dass die Griechen faule Säcke sind, die noch nie gearbeitet haben und ständig Urlaub machen (sonst hätten sie nicht so viele Inseln ins Meer gebaut), aber wir lassen es bei verbaler Erniedrigung. Natürlich ist der Bekloppte auch in der Lage, den nächsten Griechen in der Fußgängerzone zu vermöbeln, er tut es nur nicht; die Nutznießer schweigen dazu und genießen.

Bestimmt wäre die Geschichte anders gelaufen, hätte es keine Dolchstoßlegende gegeben – bestimmt wäre sie auch anders gelaufen, wäre die Dolchstoßlegende keine Legende gewesen oder der Dolchstoß kein Dolchstoß. Es ist nicht ganz klar, ob nur die Sozialdemokraten daran beteiligt gewesen waren. Sicherlich war auch Konrad Adenauer auch irgendwie beteiligt. Aber das könnte auch eine Verschwörungstheorie sein.