Behämmert

5 12 2012

Bismarck lag unter dem Sekretär und muckste sich nicht. „Er ist oben“, flüsterte Frau Breschke. Man hätte es allerdings auch ahnen können. Es rumpelte und polterte, als sei Knecht Ruprecht persönlich durch den Dachstuhl gefallen. Kein Zweifel, ich war gerade noch rechtzeitig gekommen. Noch stand der Schrank nicht.

„Das ist doch eindeutig falsch“, keuchte der pensionierte Finanzbeamte, der halb verschüttet unter Holzlatten auf dem Boden lag. „Ich kann das so nicht ordentlich festnageln, außerdem verrutscht es immerzu.“ So viel musste man ihm zugestehen, er bemühte sich redlich. Jede der vorgeschrieben Stellen hatte er mit dem kleinen Handbohrer präpariert, um nun je einen Stahlstift in die Verbindung zwischen Seitenteilen und Rückwand einzuschlagen. Allerdings hatte er den Schrank mit der Rückseite nach oben gelagert und war tatsächlich unter den ganzen Trumm geschlüpft. „Ich kann so nicht richtig zielen. Das muss doch eindeutig falsch sein, oder?“ Ich blickte mich um im Zimmer; Pappreste und eine Menge kleiner Tütchen lagen verstreut auf dem Teppich herum, an der Wand lehnte ein flacher Karton mit dem vertrauten Logo eines Möbelherstellers. Auch ich hatte dem Konzern schon interessante Erlebnisse zu verdanken. Wer zweimal versucht hat, Dreh- oder Kniestühle nach deren Anleitung aufzubauen, bekam gratis eine Promotion in postdiluvialer Höhlenmalerei dazu, für ein Bücherregal brauchte man nicht viel mehr als ein Tütchen Metallabfälle und ein paar versägte Bretter, und mit etwas roher Gewalt ließ sich das Material auch zu einem hübschen Kinderbett umbauen. Oder zu einem Galgen, je nach Arbeitsaufwand.

„Was steht denn auf der Packung“, erkundigte ich mich. „Skräp“, antwortete Horst Breschke. Allein dies half nicht weiter. „Vielleicht haben wir ja etwas übersehen, und Sie machen sich die ganze Mühe umsonst?“ Er reagierte eingeschnappt. „Das ist nicht der erste Schrank, den ich aufbaue.“ Das allerdings entsprach den Tatsachen. Zwei- bis dreimal hatte er schon versucht, Spanplatten zu Bücherstellagen zusammenzustellen, und die Ergebnisse hatten immer etwas leicht Surreales, wenngleich sie ziemlich entspannt aussahen. Kein rechter Winkel zu viel prägte diese Möbel, etwas Vergängliches haftete ihnen an. Lange hatten sie sich auch nicht gehalten.

Ich hatte ihn mühsam dazu gebracht, den Schrank umzudrehen – breitbeinig stand Breschke über dem Ding, das ihm jetzt den Rücken zukehrte. Je eine seitliche Wand stand leicht abgespreizt, da noch nicht genügend Stahlstifte die Hinterseite hielten. „Ich mache das nämlich sehr genau“, teilte er mir mit. „Alle zweieinhalb Zentimeter ein Nagel, das sollte genau reichen und dieses dünne Stückchen Pressholz da gut befestigen, meinen Sie nicht auch?“ Laut Aufbauanleitung waren nur gut zwei Dutzend Nägel vorhanden. „Sie setzen die Nägel zu dicht“, warnte ich, „wenn Sie unten alle paar Zentimeter Nägel einschlagen, dann haben Sie spätestens ab Kniehöhe keinen Halt mehr.“ Breschke winkte ab. „Ich trage grundsätzlich festes Schuhwerk beim Heimwerken, und der Boden ist absolut rutschfest.“

Die Rückwand war schnell wieder nach hinten gedrückt, da sie Breschke in Gesicht gekippt war beim Versuch, das Möbelstück aufzurichten. „Ich habe die doch fest angenagelt“, grollte er. „Aber nur unten“, wandte ich ein. „Dann eben nicht!“ Empört stapfte er aus dem Zimmer. Ich atmet erleichtert auf, doch ich sollte mich zu früh gefreut haben. „Das wird halten“, verkündete er stolz. Mit einer Papiertüte voller Schrauben war er zurückgekehrt. „Sie wollen doch nicht alle zweieinhalb Zentimeter eine Schraube in diese Rückwand drehen?“ Breschke schüttelte den Kopf, was ich erleichtert aufnahm. „Durchaus nicht“, beruhigte er mich. „Ich wäre ja behämmert. Diese Arbeit mache ich mir nicht.“ Und griff zum Hammer, setzte eine der Schrauben und war drauf und dran, sie in die Schrankrückwand zu dreschen. „Breschke“, rief ich, „das hat doch keinen Sinn! Jetzt gehen Sie doch mal vernünftig vor. Haben Sie denn im ganzen Haus keinen einzigen Nagel mehr?“ „Jetzt nicht mehr“, gestand er kleinlaut.

Wahrscheinlich hatte ich selbst schon zu oft Möbel verschraubt. Die Konstruktionen zerfielen für gewöhnlich in zwei Teile: die eine Hälfte wurde doppelt und dreifach verschraubt, vernagelt und von verschweißten Feder-Nut-Kombinationen gehalten, in die das letzte Teil, da meist einen Millimeter groß gesägt, nur mit entmenschter Gewalt hineingeprügelt werden konnte – die andere basierte auf einer kinderleichten Steckkonstruktion, die man nur scharf anzusehen brauchte, um sie in Sekundenschnelle zum Einsturz zu bringen. Nicht einmal durch zusätzliche Schraubverbindungen brachte man den Klapperatismus der zweiten Kategorie in einen einigermaßen sicheren Stand. „Ich glaube“, sagte ich versonnen, „wir sollten unser Hab und Gut wieder so lagern wie im Mittelalter, als es lediglich Truhen gab.“ „Das wird schon“, ließ sich Breschke vernehmen, „halten Sie mal fest.“

„Cyanoacrylsäureester“, bemerkte Doktor Klengel, „besser bekannt als Sekundenkleber.“ „Ich kriege einen Krampf“, jammerte Breschke. Er hatte den aufrecht stehenden Schrank am oberen Ende zu verkleben begonnen; dabei musste ziemlich viel aus der Tube ausgelaufen sein. „Halten Sie still“, befahl der Hausarzt und tupfte dem Alten vorsichtig die Finger mit dem Lösemittel ab. „Wir haben’s ja gleich. Nur gut, dass Sie sich nicht unter den Schrank gelegt haben.“


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