Gernulf Olzheimer kommentiert (CLXXVI): Der gesellschaftliche Skandal

7 12 2012
Gernulf Olzheimer

Gernulf Olzheimer

Mein Name ist Gernulf Olzheimer und dies ist das Weblog aus dem Land der Bekloppten und Bescheuerten.

Sobald sich der Hominide eine ungefähre Vorstellung von einer Gesellschaft machen kann, die er mit eigenem sittlichen Gedankengut zu stützen vermag, stellt er fest, dass ihm nichts Menschliches fremd ist. Weder der Weg allen Fleisches (Gemüse und Alkoholika inbegriffen) noch die Irrungen und Wirrungen unter dem Einfluss diverser Hormone sind in der Lage, ihn aus der Bahn zu werfen. Er lebt und lebt ab, doch er nimmt an seinesgleichen keinen Anstoß, bis vor lauter Frömmigkeit ausrutscht. Was ihm als das Böse unter die Nase geschwiemelt wird, ist fortan nicht mehr geduldet. Er empört sich. Allerorten lauert der Skandal, der ihn in der Entrüstung stützt.

Das σκάνδαλον scheint allgegenwärtig. Wie ein antikes Drama bricht die Vorstellung vom Altbösen über die Menge herein, fräst sich durch die Ratio und kurbelt die Produktion von Hirnplüsch an. Jedes Übel, und sei es eine juristisch ausgemachte Sache, die sich kalt aburteilen ließe, trommelt auf den Fellen der inflationsgeschädigten Weghörer. Und nicht die aktuelle gesellschaftliche Realität bestimmt die Höhe der Schaumkronen, sondern das reaktionäre Wunschdenken der Schaumschläger, die sich ein stockfleckiges Mittelalter herbeifiebern, um ihre eigenen Triebe in den Griff zu kriegen.

Bestens eignen sich dazu Eigentum und Partnerschaft, zumindest so, wie sie die öffentliche Ordnung als korrekt ansieht. Der ehebrechende Mann, schlimmer: die ehebrechende Frau, noch schlimmer: nicht legitimierte Beziehungen außerhalb des bürgerlichen Rechts, was vom herrschenden Konsens unterfüttert ist, führt rasch und unbürokratisch zum beliebig einsetzenden Vorurteil. Sofort wird zum Straftatbestand, was zuvor nur die Grauzone des Wunschdenkens betreten hat, denn jeder Skandal ist Vibrationsalarm im Resonanzboden des Über-Ich.

Der gesellschaftliche Nutzen schließt sich nahtlos an. Die Bekloppten eifern, mit Vorliebe ihre Vorbilder stolpern zu lassen; entsprechende Fallhöhe ist angebracht, denn sie garantiert längere Unterhaltung. Jede Nebensächlichkeit wird also aufgepumpt, um das moralische Koordinatensystem nachzuschärfen – meist mit Heißluft der unter anderem zu diesem Zweck erfundenen Boulevard- und Schmierenpresse, die rücksichtslos die Deutungshoheit an sich reißt. Sie spannt die Fallstricke, gibt die Haltungsnoten beim Sturz und impft den Beknackten mit Selbstgerechtigkeit, damit er seinen Vulgärvoyeurismus befriedigt und dessen nicht irre wird.

Was jene öffentlichen Moralvorstellungen angeht, reicht eine Messung des Halbwertszeit, um den Ernst der Lage zu beurteilen. Was sich nach dem großen Knall in Schlagzeilen ausbrüllt, Rücktritt und Standrecht fordert, das jappt jäh weiter, sobald der Mann den nächsten Hund beißt. Keine Sau würde durchs Dorf getrieben, wäre nicht ihr Nachfolger längst angefüttert und heißgemacht, um den Krawallpegel zu halten. Ließe das Geschrei jemals nach, man würde es schließlich als Geschrei identifizieren. Wer lebt schon in konstantem Lärm.

Dass der Spießbürger selbst betroffen sein könnte, weil es in der Sauregurkenzeit sonst nicht viel zum Aufblasen gibt, käme ihm nie in den Sinn. Steht er erst einmal auf der Titelseite der führenden Revolvergazette, schnürt das Schlagzeilenblei ihm die Luft ab, wird er schon kapieren, wer die Regeln macht. Genau dies ist die Illusion des Skandals, der oft nicht mehr ist als ein Rülpsen im Wasserglas: sie scheint von unten zu kommen und ist doch nur ein künstliches Blubbern im Tümpel.

Was aber der gemeine Kurzstreckendenker beim intellektuellen Hobeln an der Grasnarbe mitnimmt, ist das Bewusstsein, für die gute Sache zu toben, und sei es die Hygiene seiner eigenen seelischen Schmutzränder. Die Skandalisierung ist das Generalpardon für die Gesellschaft, um von der eigenen moralischen Zweifelhaftigkeit oder generell ihrer zweifelhaften Moral abzulenken. Tumb und schläfrig lässt sich der Soziohonk am Nasenrng in die Manege ziehen: ein pädophiler Priester versuppt in den Nachrichten wie die Waffenlieferung in den Bürgerkrieg gegen eine ethnische Minderheit, wer jedoch zufällig seine Dissertation aus Sperrmüll zusammennagelt, wird selten schuldig gesprochen. Skandal ist, was die Statik der gesellschaftlichen Stützkonstruktion stabilisiert.

Längst hat die obere Etage die Wirkung erfasst und setzt sie als paradoxe Reiztherapie ein. Nicht umsonst wird der plötzlich aufgewachte Teil der Bevölkerung, der sich auf demokratische Regeln besinnt und ihre Realpräsenz fordert, als Wutbürger diffamiert. In der Instrumentalisierung als plärrende Dumpfbolde werden sie versuchsweise unschädlich gemacht, damit niemand sich sachlich mit ihnen auseinandersetzen muss. Sie bewegen sich, und lässt sich die Ruhemasse durchs Gelände schieben, hat die Wahrheit bereits verloren und der Krieg darf beginnen. Gut, dass man sich moralisch schon einmal im Recht fühlt.