Alles Essig

22 01 2013

Die Straßenbahn war fast pünktlich gewesen; ich kam mit einer knappen Viertelstunde Verspätung im Funkhaus an. „Schnell jetzt“, stöhnte Glockner, „es ist höchste Zeit – Sie verpassen noch Ihre erste Sendung!“ Er riss mir den Mantel aus der Hand und schob mich in den Flur. „Warten Sie hier“, rief er hastig. „Ich suche Ihnen eben noch den zuständigen Redakteur, falls Sie Fragen haben sollten.“ Dabei war doch die letzte Minute bereits angebrochen. Die letzte, die mich von meiner Karriere als größter Literaturkritiker der Radiogeschichte trennen sollte.

Die Sekretärin schüttelte energisch den Kopf. „Die Nachrichten haben schon angefangen, wir können Doktor Brettlein jetzt unter gar keinen Umständen stören.“ Glockner ballte die Faust. „Gut, dann müssen wir es eben so wagen. Sie wissen noch, was ich Ihnen eingeschärft habe?“ „Allerdings“, gab ich zurück. „Ich habe eine Stunde Zeit, um über Gegenwartsliteratur zu sprechen, gebe drei Lesetipps, die die Redaktion zufällig auch verlost, und darf ein Werk nach freier Auswahl in Grund und Boden stampfen.“ Glockner nickte. „Ja, das ist es. Sie müssen jetzt rein, es fängt sofort an. Und denken Sie daran: unsere Hörer legen großen Wert auf ein intellektuelles Programm, aber der Service steht im Mittelpunkt. Klar?“

Adelheid Trudebach-Hermsfelder, eine in bunte Filzreste gehüllte Endfünfzigerin, quiekte vor Fröhlichkeit. Ihrem Mitteilungsbedürfnis entnahm ich, welchen Sender die Hörer eingeschaltet hatten. Und warum. „Natürlich haben wir für Sie auch in dieser Stunde wieder viele Tipps für ein schönes Wochenende“, sprudelte sie ins Mikrofon, „und unseren Experten haben wir auch schon im Studio.“ Ein aufmunternder Blick traf ich. „Sagen Sie ‚Hallo‘“, zischte die Moderatorin. „Hallo“, gab ich zurück. Ihre Halsmuskulatur krampfte sich für einen Augenblick zusammen, doch sie hatte sich schnell wieder im Griff. Dem Vernehmen nach wäre ich gekommen, alle Fragen zu beantworten. Warum irgendein alternder Mann darauf den Vollmond der Liebe besingen musste, sei dahingestellt, jedenfalls rauschte es nach wenigen Sekunden in meinem Kopfhörer. „Achtung“, quäkte es, „wir können!“ „Und da haben wir auch unseren ersten Anrufer in der Haushalts-Sprechstunde. Wer ist denn da?“ „Pöppermann“, ließ sich die zaghafte Stimme vernehmen, „Pöppermann hier, und ich hätte da mal eine Frage.“ Bange Sekunden der Stille. Und dafür hatte ich zwei Kilo unerträglicher Romane gelesen?

Die bunte Adelheid riss den Regler runter. „Sie sind im falschen Studio“, keifte sie, „Sie sollten in Studio C, und das hier ist…“ „Studio C“, ergänzte ich. „Heute ist übrigens Dienstag.“ Sie erbleichte. „Dann ist das hier gar nicht…“ „Ich hatte da in der Wanne das Wasser nicht abgelassen“, brachte sich der Hörer in Erinnerung, „das gibt jetzt so Ränder, was kann man denn da machen?“ „Putzen“, knurrte ich entnervt. „Hallo?“ Die Moderatorin hatte mein Mikrofon gleich mit abgedreht; ich gab ihr ein Zeichen. „Bei solchen Streifen ist Essig immer ein gutes…“ „Apfelessig?“ „Ja“, zischte Adelheid, „labern Sie ihn voll!“ „Das wird gern genommen“, schwafelte ich los. „Aber auch mit Kräuteressig und verdünnter Essigessenz kann man gute Erfolge erzielen – aber bitte vorher zweimal aufkochen, das verstärkt natürlich die Wirkung.“ „Großartig“, strahlte Radiofrau, „Sie sind ein Naturtalent!“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich kenne Ihre Sendung. Allerdings nur vom Abschalten.“

„Wen haben wir da in der Leitung?“ „Ich habe ein Problem mit Hornhaut.“ „Haferflocken“, soufflierte die Radiöse. Ich rümpfte die Nase. „Sehe ich das richtig, dass Sie das Problem an den Fußsohlen haben?“ Die Anruferin war geständig. „Dann würde ich Ihnen kein Haferflockenbad für die Finger empfehlen, sondern einen Bimsstein und mildes Seifenwasser.“ Die Trudefelder-Hermsdings runzelte die Stirn. „Das ist doch…“ „Ich bin heute als Haushaltsexperte für Sie da“, unterstrich ich, „ich! Ihre Frage, bitte?“ Es handelte sich um Hundeflecken. „Natürlich brauchen Sie dazu ein Vollwaschmittel mit einem Löffel Akazienhonig“, gab ich preis. Die Hörerin blieb skeptisch. „Es ist aber nur ein kleiner Hund.“ Ich seufzte. Was kann der Hörfunk heutzutage noch ausrichten.

„Das ist ja ganz schön“, stieß die Leiterin hervor, „aber woher nehmen Sie diese Tipps?“ Ich tat verwundert. „Sie wussten das nicht? Zu wem bitte setzt man mich hier ins Studio!?“ „Ich mache das doch sonst nie“, wimmerte sie, „normalerweise bin ich für das Literaturjournal zuständig.“ „Ach was“, knurrte ich. „Bücher, wer braucht so was? Sie sollten den Service-Gedanken in diesem Sender mehr betonen, sonst bringen Sie es nie zu etwas. Wer ist da in der Leitung?“ „Ich habe ein Problem mit – hallo? Ernstle, bin ich schon auf Sendung?“ „Ihre Frage bitte“, keuchte Adelheid gereizt. „Nur die Ruhe“, beschwichtigte ich, „etwas Öl, und dann lassen sich die Nägel rausziehen.“ „Woher…“ „Haben wir einen neuen Anrufer in der Leitung?“

Während der Zwischenmusik schaute Glockner durch die Tür. „Bedaure“, stammelte er. „Wir haben in der Eile den Sendeplan… wenn Sie morgen noch einmal…“ „Egal“, beschied ich, „man könnte diese Tischplatte mit etwas warmem Bier schnell wieder glänzend machen. Was meinen Sie?“ Er nickte.

„Abgemacht!“ Doktor Brettlein schüttelte mir die Hand. „Einmal die Woche in Studio C, und Sie machen die Haushaltstipps. Ich kann doch mit Ihrer Expertise rechnen?“ Geschmeichelt sagte ich zu. Glockner war selig. „Ich wusste, das nimmt ein gutes Ende.“ „Nicht“, unkte meine Kollegin Trudebach-Hermsfelder, „nicht, dass es uns so ergeht wie mit diesem Studenten!“ Der Redakteur starrte angestrengt auf seine Schuhspitzen. Brettlein betrachtete intensiv die Decke. „Wir hatten da wohl einmal einen Mitarbeiter, der sich angeblich mit der deutschen Gegenwartsliteratur auskannte. Den mussten wir letzte Woche hinaustun.“ Ich griff nach meinem Mantel. „Also dann bis nächsten Dienstag, und seien Sie pünktlich!“ Ich schüttelte Glockner die Hand. „Selbstverständlich“, beeilte ich mich. „Aber ich bin spät dran. Ich muss da noch etwas nachschlagen. Apfelessig, Sie verstehen?“