Mit gezinkter Karte

30 01 2013

Hansi schwitzte. „Wir sind geliefert.“ Brunos Schnurrbartspitzen vibrierten heftig. „Klotzmann.“ Die ganze Küchenbrigade blickte betreten zu Boden. „Ausgerechnet Klotzmann“, stöhnte Hansi. „Jeder weiß, dass der Alte nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, aber wenn er uns besucht, sind wir verloren.“

Bruno, Chef des gleichnamigen Landgasthofs, den man mit Ehrfurcht Fürst Bückler nannte, wie er Schwarzsauer und Aal in Gelee kochte, stierte trostlos in die Weite. „Dass es so enden muss!“ „Na“, tröstete ich ihn. „Noch ist ja nicht alles verloren.“ Hansi, sein Bruder und deshalb für den Service zuständig, schüttelte voller Resignation den Kopf. „Machen wir uns nichts vor. Bei Holtgrefe hat er den preisgekrönten Hecht bestellt und fand ihn tranig. Im L’Artichaut hat er an den getrüffelten Perlhuhnbrüsten nach Luigi Marinotti kein gutes Haar gelassen. Alles, was er bestellt, muss wohl auf dem Weg verunglückt sein. Lies das.“ Er schob mir die Zeitung über den Tisch. Ich begriff.

Klotzmann muss früher ein genussfreudiger Mensch gewesen sein, doch die Kollision mit einer Schranktür schickte ihn jäh zu Boden; als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, war er ein alter Griesgram, dem an der jetzigen Welt nichts mehr lag. Er kleidete sich nach der Mode vergangener Jahrzehnte, schalt die heutige Musik Krach für Halbstarke und beharrte auf Erbsen in dicker Mehlpampe. Manche wollten gehört haben, dass er vor dem Einmarsch der Russen warnte und Ludwig Erhard hinter vorgehaltener Hand als Umstürzler bezeichnete. Er war nicht einfach, und dazu noch der einzige Kritiker, der Bocuse seit seinen Anfängen abwechselnd gelobt und verdammt hatte.

„Wir könnten Fisch totbraten“, empfahl Petermann. „Oder verkochte Kartoffeln mit zerlassener Butter.“ Ich schüttelte den Kopf. „Lasst mal, ich habe das so eine Idee. Hansi, wir haben doch noch diese alten weißen Jacken?“ Er nickte. „Und eine neue Speisenkarte bräuchten wir auch. Aber nur ein Exemplar.“ Bruno war verwirrt. „Warum nur ein Exemplar? Sollen wir für ihn etwa eine vollkommen neue Küche machen?“ „Nein“, beruhigte ich ihn. „Nur ein paar Kleinigkeiten, Du wirst schon sehen.“

Kurz nach halb sieben erschien der erwartete Gast. Mit angeklebtem Scheitel und einer weißen Serviette über dem Arm standen Hansi und ich an der Wand. „Wenn ich dem Herrn eine Kleinigkeit vorweg anbieten dürfte?“ Schon griff Hansi nach den Champagnerflöten, doch ich schickte ihn mit einer Handbewegung auf Distanz. „Eine kleine Königinpastete vielleicht? Wir haben auch schöne Ochsenzunge auf Graubrot, dazu Remoulade?“ Hansi riss die Augen auf. „Das haben wir doch gar nicht“, zischte er. „Zumindest die Pastete haben wir“, zischte ich zurück. „Da lagen vertrocknete Reste in der Speisekammer, die sind bestimmt original aus der Zeit.“ „Die Pastete bitte, und einen Wein dazu?“ „Einen Pokal Mosel, der Herr?“ Er nickte gnädig. Hansi staunte. „Kipp ihm einen Riesling rein, mit zwei Stück Würfelzucker.“

Da also saß Klotzmann, löffelte eine Tasse Fleischbrühe mit Ei aus kritzelte verstohlen auf den Knien in einem Notizbüchlein herum. „Mit Ei kostet neunzig Pfennig“, informierte ich Hansi, „bitte die Rechnung diesmal von Hand ausstellen, sonst hält er sie nicht für echt.“ Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich ließ mich nicht beirren. „Frag bitte mal Bruno, ob sie nicht auf die Schnelle noch ein Eisbein mit Butter und Toast hinkriegen. Sonst reicht auch ein Löffelchen verkochter Mischpilze auf Rührei.“ „Ich will damit nichts zu tun haben“, knurrte Hansi und drückte sich aus der Tür.

„Vorzüglich“, beschied Klotzmann. „Ganz vorzüglich. Wie bekommen Sie diesen grandiosen Kartoffelsalat zustande?“ Ich spielte den Geschmeichelten. „Ach, nicht der Rede wert. Wir haben einen kleinen Schrebergarten hinter dem Haus, da pflanzen wir die Kartoffeln an. Und natürlich die sauren Gurken. Wir nehmen ja nur Müllermeisters Gewürzte mit dem Frischeknack, verstehen Sie? Erstklassige Ware. Natürlich aus westdeutschem Anbau.“ „Natürlich“, nickte er. „Man schmeckt das sofort. Und jetzt könnten Sie mal etwas für hinterher bringen. Haben Sie einen anständigen Südwein?“ „Besser“, zwinkerte ich, „kennen Sie Mampe?“

Ich schwang die Küchentür auf. „Bereit zum Finale? Unser Gast möchte gerne etwas Exotisches. Bitte eine Portion Ananas mit Sahne. Und einen Schlehenlikör.“ Bruno hielt mich am Arm fest. „Ich will die Karte sehen.“ Bereitwillig schob ich ihm das schmale Ledermäppchen zu. In Schönschrift standen dort warme und kalte Speisen, Getränke, Kuchen, Torten und Desserts. „Buttercremetorte? Herrengedeck? Russische Eier? Wo hast Du den Krempel denn ausgegraben?“ „Wir hatten ja damals nichts“, gab ich lakonisch zurück. „Offensichtlich ist Klotzmann auf dem Level stehen geblieben, und genau das bekommt er hier. Der Geschmack seiner frühen Jahre, als man sich neben der Sättigung den kleinen Luxus von Tubenremoulade erlaubte. Das macht ihn zum unglücklichen Menschen, denn wer würde heute dieses Zeug anbieten. Also spielen wir mit gezinkter Karte. Wir werden die ersten mit einer guten Kritik sein.“ Bruno schluckte. Er schlug die Tür auf und schritt quer durch den großen Saal, wo Klotzmann unbeirrt in seinem Büchlein krickelte. „Bückler“, sprach er mit einer leichten Verbeugung. „Darf ich Ihnen einen echten Weinbrand-Verschnitt anbieten?“