In der Venusfalle

4 02 2013

Möglicherweise war die Sache von langer Hand geplant. Möglicherweise hatte sie sich aber auch erst in diesem Augenblick ergeben. Mit zitternden Fingern zog der alte Mann die Türkarte durch den Schlitz. Das Schloss sprang mit einem metallischen Knacksen auf. Die junge Journalistin trat in das Hotelzimmer ein und ließ die Strickjacke achtlos von den Schultern gleiten. Sie schritt direkt auf das Bad zu. „Momentchen noch“, gurrte sie, „ich will mich nur eben ein bisschen frisch machen.“

Sekunden später hatte er die Schuhe ausgezogen und die Hosen heruntergelassen. Er knotete mit schwitzigen Fingern die Krawatte auf, nestelte sich aus dem Hemd und schlug die Bettdecke zurück. Dann beugte er sich herunter, um die Socken abzustreifen, doch er hielt inne; er zog die Nachttischschublade auf und griff hastig nach dem Mundspray. In diesem Moment hörte er das Geräusch hinter sich. Instinktiv drehte er sich um, das Sprühfläschchen noch in der Hand.

Die Partei leugnete, er hätte die Bekanntschaft der Journalistin am Rande des Neujahrstreffens gemacht; sie sei ihm nicht auf sein Zimmer gefolgt, dort habe er sich lediglich mit ihr unterhalten, sei aber nicht fotografiert worden, und auf den Fotos wäre er nie unbekleidet zu sehen. Zu dieser Zeit jedoch hatte noch niemand ein Bild zu Gesicht bekommen, geschweige denn in Erfahrung bringen können, um wen es sich bei der Journalistin gehandelt hätte. Für eine feindliche Agentin gab es keinen Anhaltspunkt.

Die Schlagzeilen der Boulevardpresse nahmen sich der Sache schnell an. Der Nackte kann ohne und In der Venusfalle und Das füllt kein Dirndl aus titelten die Blätter. Meist waren die Bilder grob verpixelt, stark verwackelt und unscharf, zudem mit Balken über den Augen und anderen Körperstellen versehen. Die Partei schwieg, ihr hochrangiger Funktionär, ehemaliger Bundesminister und prominenter Talkshow-Gast jedoch nicht. Er sammelte um sich Unterstützer für die Gegenwehr. Ein wütender Anruf in der Chefredaktion des größten deutschen Unterschichtenblattes – in Abwesenheit des Chefredakteurs – sollte für klare Fronten sorgen. Das hätte er besser gelassen.

Nach einem Tag trügerischer Ruhe erschien das Blatt mit einer hochauflösenden Fotografie. Das Bild zeigte zunächst lediglich den Oberkörper des Ex-Ministers, wie dieser sich Pfefferminzaroma in den Rachen sprühte. Die Bildunterschrift argwöhnte bereits, ob es sich um eine neu entwickelte Art von Kreide handeln könnte – von Seiten der Partei hatte es keine Kritik an der Zeitung gegeben – oder um das sagenumwobene Nachfüllpack mit Heißluft, die der Fraktionsvorsitzende bei Parlamentsreden in großer Menge abzusondern gewohnt war. „Es ist“, folgerte eine nicht näher bekannte Person, hinter der sich wohl der Chefredakteur selbst befand, „der Alkohol, der ihm die charakteristische Fahne verschafft, ohne die er leicht verwechselt werden könnte.“ Ein Kommentar auf Seite drei befasste sich mit der Frage, ob er bewusst Sprühschnaps zu sich genommen hätte, um auf der Polizeiwache für unzurechnungsfähig erklärt zu werden, was ihm eine peinliche Untersuchung erspart hätte.

Erste Talkshows hatten den Stoff für sich entdeckt. Ein besonderes Augenmerk hatte der Moderator einer Sonntagabend-Sendung auf die Zusammenstellung der Diskussionsteilnehmer, die im Schnitt das Rentenalter aufwiesen. Thesen wie „Männer sind nun mal so“, „Wenn man sein Hotelzimmer betritt, zieht man sich eben aus“ oder „Die hat schuld, weil die ist eine Frau“ wurden eine gute Stunde lang gegeneinander abgewogen. Das brachte so gut wie keine Erkenntnisse, erforderte also eine sofortige Fortsetzung in zahlreichen anderen Gesprächsformaten.

Die Partei kochte vor Wut, konnte jedoch nichts unternehmen. Intern wurde berichtet, sie würde auf zukünftigen Parteitagen Journalistinnen der großen deutschen Boulevardzeitung nicht mehr zulassen. Diese konterte es am folgenden Tag mit einem ganzseitigen Farbfoto (volle Figur, frontal) und der Schlagzeile Da hängt sein Brüderle. Nicht weniger gut getroffen zeigte ein bekanntes Satiremagazin das ehemalige Regierungsmitglied. Wir zeigen ihn in Originalgröße erklärte das Titelblatt; als Gimmick lag der Ausgabe eine Lupe aus transparentem Plastik bei.

Erstmals meldeten sich Nachwuchskräfte der Partei zu Wort; sie verteidigten den Spitzenmann mit der ihnen geläufigen Art, die sie auch bei verurteilten Steuerhinterziehern zuwenden pflegten: die Tatsache, dass er sich der Journalistin unter Umständen habe unsittlich nähern wollen, ist noch nicht ehrenrührig, lediglich der Umstand, dass er sich habe erwischen lassen, spreche gegen ihn. Andere Meinungen ließ der Vorstand nicht gelten, nicht einmal außerhalb der Partei.

Die große deutsche Boulevardzeitung schien sich nicht daran zu kehren. In der Printausgabe vergoss der seit Jahren geübte Kolumnist, der über jedes Thema schreiben kann – wenn ihm das Thema ausgeht, schreibt er einfach weiter – heftige Tränen über die grassierende Unmoral, die vor allem auf Frauen zurückfalle, sie sich mit ihr nicht abzufinden bereit seien, während die Internetausgabe eine Klickstrecke halb nackter Prominenter zeigte, die ohne ihr Wissen abgelichtet worden waren.

Wenigstens zeigte sich die Partei einmal entschlussfreudig. Ab sofort wurde es ihren Vorstandsmitgliedern untersagt, Journalistinnen mit aufs Hotelzimmer zu nehmen. Stattdessen sollte das Führungspersonal mit zu den Journalistinnen gehen. Dann sei im Falle eines Übergriffs nicht der Politiker beschädigt, sondern die Journalistin. Die Partei stellte sich hinter ihren Spitzenkandidaten. Möglicherweise.