Bohm balancierte mit zittrigen Knien auf der Leiter; fahrig befestigte er das Plakat am Laternenmast, und kaum hatte er es einigermaßen gerade hingerückt, da packte er wie verzweifelt nach der letzten Sprosse. Hastig stieg er ab, erreichte den Boden und atmete schnaufend durch. Das Plakat hing in der flirrenden Märzsonne. Nur die Mark macht uns stark verkündete es.
Er hatte mich natürlich sofort entdeckt und war auf die andere Straßenseite gelaufen, froh, nun wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. „Sie werden schon sehen“, verkündete er trotzig, „diesmal werden Sie es sehen.“ So viel hatte es bisher auch nicht zu sehen gegeben, Bohm war erst konservativ gewesen und dann Sozialist, dann Trotzkist, dann Spartakist, dann Ökonazi, esoterisch und nun gegen den Euro. „Diesmal werden wir es schaffen. Sie werden auf das Volk hören.“ Ich blickte an ihm herunter. „Ganz schön clever, das mit der Mark.“ Er schluckte, freudig erregt. „Finden Sie?“ „Allerdings“, gab ich zurück. „Irgendwann wollten Sie noch die Weltrevolution, dann den Weltfrieden, wenn alle sich wegmeditieren, inzwischen reicht es Ihnen schon, wenn wir die Währung wechseln. Ihre Bescheidenheit ist echt ein leuchtendes Vorbild für die Allgemeinheit.“
Möglicherweise hatte er mich nicht verstanden, denn er nestelte sofort ein zerknülltes Heftchen aus der Umhängetasche (dem Braunton nach stammte sie aus der Ökonazizeit, dem Aufdruck nach hatte sie ihren Ursprung im Trotzkismus, der Verdacht drängte sich auf, dass beides nicht unbedingt in Opposition stehen musste) und drückte es mir in die Hand. „Wir haben auch ein Wahlprogramm.“ Das Blättchen, mehr war dies zu einem achtseitigen Heft aufgeblähte Ding nicht, verkündete neben dem Inhalt des Wahlplakats lediglich die Tatsache, dass es sich bei diesem Wahlprogramm um ein Wahlprogramm handelte. „Sehr gut“, lobte ich. „Es kommt zwar nichts über Bildung, Gesundheit oder Verkehrspolitik darin vor, aber ich bin mir sicher, dass es in der Presse Anerkennung findet. So ein differenziertes Vollprogramm wird ja allgemein überbewertet, da ist es besser, sich auf die wesentlichen Punkte zu beschränken.“ „Und Sie meinen“, fragte er skeptisch, „das wird im Wahlkampf ausreichen?“ Aufmunternd blickte ich ihn an. „Sicher. Die Leute interessieren sich nicht dafür, wovon sie ihre Miete bezahlen sollen, die Hauptsache ist, sie können sie in Deutscher Mark nicht mehr bezahlen.“
Verschämt nestelte Bohm einen Aufkleber aus der Tasche, aber er musste wohl erkannt haben, dass sich mein Interesse an derlei Materialien in engen Grenzen hielt. „Haben Sie wenigstens Fähnchen gegen Sozialabbau?“ Er schüttelte den Kopf. „Oder vielleicht eine App, die den momentanen Verbrauch an Geld als Brennmaterial für die Bad Banks anzeigt?“ Er schüttelte den Kopf, betroffener als zuvor. „Nicht einmal ein Luftballon?“
Er packte mich plötzlich am Arm. „Treibt Sie nicht auch die Sorge um die Demokratie in Deutschland?“ Mit bebender Stimme zeichnete er ein Bild von Düsternis und dräuender Gefahr. „Wenn wir nicht wieder die Mark bekommen, was wird dann aus uns?“ Ich sah ihn gelangweilt an. „Mir treibt’s eher die Haare von innen gegen den Flanell, wenn ich mir überlege, was passiert, wenn wir die Mark tatsächlich wiederbekommen.“ „Sehen Sie sich doch die anderen Länder an, die den Euro nicht haben – geht es denen nicht gut?“ „Aber sicher“, höhnte ich, „Großbritannien ist ja ein Hort des Wohlstandes geworden. Und wenn wir wie Norwegen aus der Union austreten, wachsen über Nacht Bodenschätze, von denen wir reich werden.“
Er mopste sich. „Wir halten die Extremisten fern.“ Ich konnte nicht anders, ich lächelte. „Das wird die Extremisten bestimmt freuen, zumal sie jetzt schon nicht in ausreichender Zahl gewählt werden, um im Bundestag zu sitzen – von der FDP einmal abgesehen, aber das hat sich ja bald erledigt – und es ist dann doch besser, wenn sie Ihrer Partei beitreten.“ Bohm guckte irritiert. „Sie sind ja sicher so besorgt um die Demokratie, bei Ihnen treten nur Extremisten ein, um sich bekehren zu lassen.“ „Was haben Sie nur immer mit Ihrer Skepsis? Sie werden schon sehen, diesmal geht es gut.“ „Meinetwegen.“ Ich wandte mich zum Gehen. „Nein, ernsthaft. Machen Sie ruhig. Dann treten wir aus der EU aus, um den Euro loszuwerden – das muss sein, wir wollen ja ausnahmsweise mal Verträge einhalten, oder wofür wollen Sie gewählt werden? – und führen die Mark wieder ein. Eine schöne, stabile Währung, die uns die komplette Ausfuhrwirtschaft kaputt macht, für eine Rekordarbeitslosigkeit wie in Spanien und Griechenland sorgt und die Banken in die Knie zwingt – wir werden auch da die Verträge einhalten, wissen Sie, es macht sich einfach besser – und schließlich die Altersvorsorge der Kleinsparer – Verträge, wissen schon – auffrisst. Weggeriestert. Pech. Aber schön, dass Sie sich so ein tolles Programm haben einfallen lassen, auch wenn es vorerst nur für die Friedensjahre gedacht ist.“
Ich klopfte ihm auf die Schulter und ließ ihn stehen im leicht einsetzenden Schneeregen, wortlos, verdutzt und verstört. Kann sein, dass er immer noch dasteht. Wenn er lange genug wartet, wird ihn bestimmt jemand fragen, ob er mal eine Mark für ihn hat.
Satzspiegel