Frühlingserwachen

1 04 2013

07:20 – Die milden Strahlen der Morgensonne tauchen die Siedlung Kiebitzredder in ein fahles Licht. Pensionär Ottfried L. (69) nutzt die frühe Stunde des Ostersamstags, um den Vorgarten in festliches Gepränge zu versetzen. Er hängt je zwei blaue und gelbe Kunststoffeier an den letztjährig gepflanzten Spalierapfel.

07:31 – War die Festvorbereitung in den Gärten der Reihenhäuser bisher eher spärlich ausgefallen, so fügt Paola H. (32) mit dem Osterhasen-Hänger im Küchenfenster der Nachbarschaft einen farblich hervorstechenden Blickfang hinzu.

07:43 – Rentnerin Hermine G. (78) unterzieht ihre Fenster einer kritischen Prüfung. Sie beschließt spontan, die Scheiben zu putzen, wozu sie ein Narzissentöpfchen aus der Küche vorübergehend auf der vorderen Fensterbank abstellt. Auch diese Provokation wird nicht ohne Folgen bleiben.

08:01 – Mit einem Frontalangriff setzt Rainer P. (43) die östliche Straßenseite in Szene. In Windeseile dekoriert er einen Eimer mit Forsythien und postiert die gelb leuchtenden Zweige auf dem Balkon. Höhnisch strahlt die Blütenpracht in den Märzwind hinein.

08:14 – Gemütlich schlendert Ottfried L. (69) auf die Rasenfläche vor dem Wohnzimmerfenster. Unter den atemlosen Blicken der Anwohner packt er eine gipserne Hasenfigur in leicht abgeblätterter Farbfassung aus der Plastefolie, postiert sie mittig zwischen zwei Topfgewächsen und kehrt ungerührt ins Haus zurück. Es riecht nach Krieg.

08:33 – Gesamtschullehrer Dietmar B. (37) unterbricht kurz die Korrektur der Sozialkunde-Klassenarbeit zum Thema Friedenspolitik. Von seinem Schlafzimmerfenster aus beobachtet er, wie Philipp E. (39) die Osterbüsche mit Eiern behängt. Er zerknickt zornig seinen Bleistift und beschließt unverzüglich zu handeln.

08:54 – Mittels einer Schubkarre transportiert Hans-Erwin M. (51) sämtliche Osterglocken aus dem an die Terrasse angrenzenden Hochbeet in den Vorgarten. Einige energische Handgriffe mit der Pflanzhilfe sind vonnöten, dann erstrahlt das noch jungfräuliche Streifchen Erde auf der westlichen Straßenseite in sattem Gelb.

09:01 – Theo Z. (45) lässt sich das nicht länger bieten. Zwar muss er zunächst seinen SUV von den verkrusteten Harschresten freikratzen, doch schon kurz darauf lässt er mit quietschenden Reifen die Siedlung hinter sich, um das Gartencenter im nahe gelegenen Gewerbegebiet aufzusuchen.

09:24 – Während Hermine G. die Doppelfenster abledert, dringen vereinzelt Röstaromen aus der Küche der Postbotenwitwe: ihr Brotröster, Baujahr 1954, wärmt unentwegt die beiden Toastscheiben.

09:30 – Mängel an Mehl und Milch mindern den Erfolg; Sabine U. (33) konstatiert wutentbrannt, dass sie zwar außer den in Zwiebelschalen gekochten noch ein halbes Dutzend Eier vorrätig hat, doch reicht dies nicht zur Herstellung eines gleichfalls die Siedlung aromatisch flankierenden Hefezopfes. Ihr Gatte erhält den Befehl, sofort den Supermarkt aufzusuchen.

09:40 – An der Ostfront wird erbitterter Widerstand geleistet. Theo Z. lädt acht Stiegen Narzissen aus dem Kofferraum.

09:48 – Mit einer Kiste Weihnachtsschmuck betritt Dietmar B. das Kampfgebiet. Angesichts aparter Engelein und schneeflockengeschmückter Kugeln verlässt ihn der Mut.

10:02 – Der Teig ist gerührt. Sabine U. versucht mit dem elektrischen Haartrockner, den Wuchs des Hefeteigs zu unterstützen.

10:07 – Die Hand der Hausfrau lahmt. Wenige Handgriffe genügen, um den Föhn am Stativ für die Videokamera zu befestigen, das im Privatleben der U.s eine essenzielle Rolle spielt und daher stets griffbereit steht.

10:10 – Vorsichtig lädt Hinner T. (44) acht Paletten Eier aus dem Fahrzeug, als seine Frau ihn ins Haus ruft. Während er ein wichtige Telefonat mit dem Bauamt erledigt, stehen die saisonal begehrten Lebensmittel unbeaufsichtigt auf dem Dach seiner Limousine.

10:22 – Die Märzenbecher lagern wohlverteilt in Z.s Garten. Der Hausherr sucht nach einem Spaten.

10:30 – Schrille Schreie ertönen aus dem Haus der Familie B. Beim Versuch, die günstig im Internet erstandenen Christbaumkugeln unter Zuhilfenahme eines Gasbrenners anzuwärmen und oval zu deformieren, geraten die ebenfalls chinesischer Provenienz zuzurechnenden Vorhänge ins Schussfeld. Eine Stichflamme schießt empor und hüllt das Wohnzimmer mit Essecke sekundenschnell in dichten Qualm. Claudia B. (34) erreicht im Laufschritt die Grundstücksgrenze, bekleidet mit Plastiksandalen sowie einem Hüftschmücker aus geblümter Viskose.

10:37 – Noch immer regt sich der Hefeteig nicht. Im Gegensatz dazu hat die Rührschüssel unter dem Einfluss des Heißluftstrahls eine dünnflüssige Konsistenz erreicht. Der schmelzende Kunststoff sickert gemächlich zu Boden. Noch sind die Flaschen mit Haushaltsspiritus und Spezialreinigern nicht erreicht.

10:40 – Eine Gartenschaufel ohne Handgriff ist nicht geeignet, Z. bei seiner Pflanzaktion Licht im Osten genug technische Hilfe zu geben. Er dehnt seine Suche auf den zweiten Kellerraum aus.

10:41 – Unter der Wucht plötzlich anbrausender Flammen bersten die Küchenscheiben. Was sich an Haushaltschemikalien in der Küche der Familie U. befunden hat, wälzt sich als überdimensionaler Feuerball auf die Straße.

10:42 – Dietmar B. googelt größtes osterfeuer der welt.

10:57 – Markus A. (29) wittert seine Chance. In mehreren Anläufen robbt sich der ehemalige Zeitsoldat zwischen den parkenden Fahrzeugen durch, um sein berufliches Wissen zur Anwendung zu bringen: in der Fortsetzung des Halblegalen mit anderen Mitteln die Rohstoffversorgung zu sichern. Zwei Eierpaletten werden von A. entwendet und hinter dem Zierliguster zwischengelagert.

11:11 – Stolz kleben die Zwillinge Thea und Tina O. (4) ihre grafische Installation Osterhase mit Mami und Sonne über dem Haus (Buntstift auf Papier, 2013) ans Kinderzimmerfenster. Die Dämonen dürsten nach Blut.

11:29 – Weder Grabstock noch Schippe findet Z. im hinteren Kellergelass. Jetzt ist der Dachboden dran.

11:32 – Hinner T. bemerkt den Verlust nicht. Er trägt die verbliebenen Eier ins Haus, während Markus A. hinter dem Wagen schon im Hinterhalt liegt. A. überlegt, aus der Siedlung wegzuziehen; das Verhalten der Nachbarn lässt den notwendigen Respekt für seinen Aufenthalt vermissen.

11:43 – Dietmar B. googelt ostereier plastik blitzversand.

11:58 – Markus A. macht sich ans Werk. Zwei Paletten Eier wollen ausgeblasen, bemalt und in die Vegetation verbracht werden.

12:12 – Theo Z. verliert die Nerven. Angesichts der überall ausbrechenden Blütenpracht an Sträuchern und Hecken zerlegt er die eigene Einbauküche fast in ihre Bestandteile, um ein geeignetes Instrument für seine Grabwut zu bekommen. Da er die Schubladen seit seinem Einzug nicht eigenhändig aufgezogen hat, scheint ihm der Spaghettiheber das Mittel der Wahl.

12:21 – Der Soldat pustet wie ein Discobesucher bei der Polizeikontrolle – nichts. Vielleicht hätte ein guter Physikunterricht ihm geholfen. Vielleicht auch der Hinweis, dass die Eierschale dazu zweier Öffnungen bedarf.

12:32 – Janine H. (22) findet den Lebensgefährten leblos vor einer Palette Eier. Die gelernte Krankenschwester diagnostiziert eine Hirnembolie und ruft einen Notarztwagen.

12:44 – Passanten finden Theo Z. im Garten, Osterglocken im Anschlag, den Nudelgreifer in der Rechten, das Gesicht tief in den Mutterboden vergraben. Der Freizeitpflanzensetzer gurgelt Unverständliches. Offenbar war der Herzinfarkt schwerer als vermutet.

13:02 – Dietmar B. googelt ostern auferstehung armageddon tankstelle.

13:04 – Ohne jede Vorwarnung trägt Hinner T. eine Gruppe kindergroßer Hasenfiguren aus Hartplastik in den Garten und stellt diese auf den Rasen. Blanker Hass schlägt ihm entgegen.

13:11 – Sirenen ertönen von der verstopften Hauptstraße; kurz entschlossen eilt B. in die Garage, um sich mit den wichtigsten Utensilien für ein österliches Strafgericht auszustatten: ein Winterreifen sowie eine Lötlampe.

13:15 – Endlich biegt der Streifenwagen als Vorhut für die Rettungssanitäter in den Kiebitzredder ein. Die Beamten halten Ausschau nach der verunfallten Person.

13:16 – Polizeiobermeister Karsten S. (30) sichert das Gebiet mit der Schusswaffe. Janine H. attackiert Irene Z. (46) mit einer Injektionsspritze, während diese die Schwester mit einem Spickmesser in Schach hält. Verstärkung ist angefordert.

13:20 – In einem Fantasiekostüm für imaginäre Actionhelden – Stirnband, Muskelshirt, Gummistiefel, Gartenhandschuhe – betritt B. die Straße zum Showdown. Mit dem brennenden Reifen wird er den Ungläubigen zeigen, wie die Endlichkeit der Existenz zu verstehen ist. Wenn schon Apokalypse, dann nach seinen Spielregeln. Der Reifen sucht sich seinen Weg.

13:22 – Ottfried L. beschließt, den Rasen etwas zu kürzen. Der Benzinkanister steht bereits am Straßenrand, den Mäher wird er in wenigen Minuten die Kellertreppe hochgetragen haben.

13:23 – Einem Osterrad nicht unähnlich trudelt der qualmende Pneu den Kiebitzredder entlang. Mit einem heiseren Schrei rettet sich Karsten S. in die Fahrgastzelle des Dienstwagens.

13:24 – Wenige Sekunden später kollidiert der Reifen mit L.s Benzinkanister. Eine gewaltige Explosion reißt das Kautschukobjekt auseinander. Einzelne Bestandteile davon treffen Markus A. an überlebenswichtigen Körperstellen. Eine Diskussion, wen der zeitgleich eintreffende Notarzt zu versorgen hat, ist damit hinfällig. So endet der Ostersamstag in einer Reihenhaussiedlung, deren Bewohner einfach nur ihr trautes Heim für das Frühlingsfest schmücken wollten.